Die Frau hinter dem Mann: Alice B. Sheldon alias James Tiptree Jr. liebte das Spiel mit Identitäten. Und sie zeigte, dass sich Science Fiction höchstens handlungstechnisch, aber weder gesellschaftspolitisch noch stilistisch im luftleeren Raum bewegt.

Foto: Patti Parret/Septime Verlag

In Würdigung des Lebens und Werks von Alice B. Sheldon wurde 1991 der James Tiptree, Jr. Award ins Leben gerufen, der SF- und Fantasy-Werke auszeichnet, die Geschlechterrollen hinterfragen.

Foto: James Reber/Septime Verlag

Der siebte Band der Tiptree-Werkausgabe beim Septime-Verlag ist vor Kurzem erschienen, Besprechung folgt.

Foto: Septime Verlag

Wäre ein anderes Ende überhaupt denkbar gewesen? Am 19. Mai 1987 erschoss die 71-jährige Alice Bradley Sheldon erst ihren schwer kranken Ehemann und dann sich selbst. Zum letzten Mal verschmolzen damit die beiden Leitmotive, die ihr ganzes schriftstellerisches Leben hindurch eine unauflösliche Einheit gebildet hatten: Liebe und Tod.

Geburt eines Mysteriums

Ganz am Anfang war davon nach außen hin noch nichts zu bemerken. 1968 erschien mit "Geburt eines Handlungsreisenden" das erste Werk eines gewissen James Tiptree Jr.: eine in irrwitzigem Tempo gehaltene Kurzgeschichte über die Nöte eines interstellaren Logistikunternehmers, die das Drehbuch für eine Komödie mit Louis de Funès abgeben könnte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Sheldon bereits einige Lebensentwürfe hinter sich. Geboren am 24. August 1915 als Tochter der Reiseschriftstellerin Mary Hastings Bradley, wuchs sie in den Kreisen der besseren Gesellschaft Chicagos auf – und nahm im Alter von sechs Jahren an ihrer ersten Gorillajagd in Afrika teil. Im Zweiten Weltkrieg trat sie dem Women's Army Corps bei, wertete Luftaufnahmen aus und arbeitete damit für einige Zeit im erweiterten Umfeld der CIA. Sowohl die Geheimdiensttätigkeit als auch ihr Jagdhobby sollten später in die fiktive Vita von James Tiptree Jr. einfließen und wesentlich dazu beitragen, dass der Mythos vom männlichen Autor geglaubt wurde.

Nach einem skurrilen Intermezzo als Kükenzüchterin begann Sheldon mit 41 ein Psychologiestudium, entschied sich nach dessen Abschluss aber doch gegen eine wissenschaftliche Karriere und wandte sich der Schriftstellerei zu. Geliebäugelt hatte sie damit schon länger. Den Mut fasste sie jedoch erst, als sie aus einer Laune heraus ein Pseudonym erfand – rasch sollte sich dieses zu einer neuen, ungeahnt freien Identität entwickeln. Den seltsam eingängigen Namen Tiptree entlieh Sheldon einer Marmeladensorte.

Zeitenwende

Damals befand sich die englischsprachige Science Fiction gerade im größten Umbruch ihrer Geschichte. In den 1960er-Jahren war die sogenannte New Wave aufgekommen. Deren Reisen führten nicht mehr per Raumschiff hinaus in die Galaxis, sondern – sei es durch Drogentrips, sei es durch politische Bildung – in den inneren Kosmos. Gemäß der gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit erteilten New-Wave-Autoren dem Glauben an Technik und Wachstum eine Absage. Im Vordergrund standen nun soziale und politische Themen, Introspektion, Hinterfragung von Identitäten, popkulturelle Referenzen und stilistische Experimente.

Tiptree ritt auf dieser Welle bald so elegant wie niemand anderer im Genre. "Seine" Geschichten wurden gewagter, dunkler und immer besser. In der 1973 veröffentlichten Erzählung "Das eingeschaltete Mädchen" nimmt Tiptree Starkult und elektronische Vernetzung unserer Gegenwart zynisch vorweg. Das It-Girl, das hier durch seinen öffentlich inszenierten Konsum die Käuferscharen zur Nachahmung animieren soll, ist nur ein Avatar aus Fleisch, ferngesteuert vom Bewusstsein einer missgestalteten Teenagerin, die in einem Metallcontainer dahinvegetiert. Als sie sich verliebt und ihre Gefühle erwidert werden, ist das Ende unvermeidlich: Einmal mehr gehen Liebe und Tod Hand in Hand.

Mit dem Titel "Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod" brachte Sheldon ihre zentrale Formel auf den Punkt. Die ebenfalls 1973 erschienene und mehrfach preisgekrönte Erzählung ist eine vor Gefühlsüberschwang berstende Fabel um eine Art Rieseninsekt, das sich vergeblich aus seinem Fortpflanzungszyklus samt letalem Ausgang zu lösen versucht, dem "Plan". Tiptree schaffte es immer wieder, das Mitgefühl der Leser zu wecken – selbst für ein monströses Insekt. Oder auch für den Mann, der sich in "Doktor Ain" von Mutter Erde höchstselbst dazu verführen lässt, die Menschheit auszulöschen. Vor allem und immer wieder aber für Frauen, die von Männern ins Abseits gedrängt werden.

Geschlechterrollen und Identitäten

Schon lange vor dem Internet waren in der Science Fiction Autoren und Fans vernetzt wie in keiner anderen Sparte der Literatur. Man betrachtete sich als Familie und entwickelte daher rasch eifriges Interesse an diesem neuen, ebenso begabten wie geheimnisvollen Mitglied. Wer war dieser James Tiptree Jr., der zwar mit Gott und der Welt über ein Postfach korrespondierte, aber niemals persönlich in Erscheinung trat? Die wenigsten dachten an eine Frau. Eher schon an einen Jungen Wilden oder an einen neuen Hemingway mit "unbedingt maskulinem Stil". Oder auch an einen "schwulen Feministen", der sich regelmäßig mit Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und der großen, streitbaren Joanna Russ über die Frauenbewegung austauschte – aus der sicheren Warte eines freundlich gesinnten Außenstehenden.

Alle spekulierten, manche recherchierten Tiptree hinterher – und einer schaffte es sogar bis vor dessen Haustür. Dort musste sich 1969 Jungautor David Gerrold, der unter anderem das Skript für die legendäre Tribbles-Folge von "Star Trek" geschrieben hatte, von einer netten Dame in reiferen Jahren sagen lassen, dass er sich leider in der Adresse geirrt habe. Gerrold zog unverrichteter Dinge ab und die nette Dame schloss die Tür hinter sich, erleichtert, dass sie ihr Geheimnis ein weiteres Mal gewahrt hatte.

Eine traurige Ironie ist, dass Sheldon die Charade nur anfangs genießen konnte. Stets die erbarmungsloseste Kritikerin ihrer selbst, begann sie sich zu fragen, ob sie die gleiche Popularität erlangt hätte, wäre sie als Frau erkennbar gewesen. Als sie sich mit "Raccoona Sheldon" ein weiteres, diesmal weibliches Pseudonym zulegte und damit deutlich weniger Erfolg hatte, schien dies ihre Ängste zu bestätigen.

Immerhin eine Raccoona-Geschichte – zugleich eine der düstersten Erzählungen Sheldons überhaupt – reihte sich unter ihren großen Werken ein. "Die Screwfly Solution" schildert in grauenhaft nüchterner Weise, wie Frauen weltweit zu Opfern von Attacken durch Männer werden, angestiftet durch "Engel des Herrn". Die letzte Frau auf Erden, die den globalen Femizid überlebt hat, wird einen dieser Engel sehen. Und feststellen, dass es sich um einen außerirdischen Grundstücksmakler handelt, der zu einer Methode aus der Insektenbekämpfung griff, um seine Wunschimmobilie von lästigem Menschenbefall zu säubern. Längst waren Sheldons Pointen tiefschwarz geworden.

Das unausweichliche Ende

1976 flog Tiptrees wahre Identität unter besonders unglücklichen Umständen auf: Jemand bezog eine Anmerkung Tiptrees zum Tod "seiner" Mutter korrekt auf die Todesanzeige Mary Hastings Bradleys. Vom Verlust der schützenden Maske sollte sich Sheldon nie mehr ganz erholen, auch wenn sie – mit weniger Erfolg als früher – als Tiptree weiterschrieb.

Zudem verschlechterten sich ihre persönlichen Umstände kontinuierlich. Tiptree-Biografin Julie Phillips sieht in Sheldons letztem Lebensjahrzehnt all die Faktoren übermächtig werden, die seit jeher an ihr gezehrt hatten: eine bipolare Störung, ihre nie ausgelebte Homosexualität, Drogen- und Medikamentenkonsum, nagende Selbstzweifel und eine lebenslange Faszination für den Tod, der Sheldon schließlich nachgab.

Werkausgabe

Phillips' exzellente Biografie "James Tiptree Jr.: Das Doppelleben der Alice B. Sheldon" ist 2013 im Wiener Septime-Verlag erschienen, der auch das umfangreiche Gesamtwerk Tiptrees in einer mehrbändigen Reihe herausgibt: Im Grunde eine "Wahnsinnstat", wie Verleger Jürgen Schütz – ein nach eigenen Worten spätberufener, aber enthusiastischer Science-Fiction-Fan – zugibt; immerhin gelten Kurzgeschichten heute noch mehr als zu Tiptrees Lebzeiten als Kassengift. Leider konnte Sheldon das Tempo, die extreme Verdichtung und damit die mitreißende Wirkung ihrer Werke nie gleichwertig auf das einträglichere Romanformat übertragen.

Aber sie sind Tiptrees bleibendes Erbe: an die 70 Erzählungen, die unterhalten, berühren, aufrütteln und verstören, heute wie damals. Und die mit jeder exotischen Handlungsidee, jedem stilistischen Wagnis und jedem überraschenden Twist aufwarten, die man sich nur vorstellen kann. Nur eines hatten sie so gut wie nie: ein Happy End. (Jürgen Doppler, 22.8.2015)