Brüssel und die Hauptstädte, die EU und ihre Mitgliedstaaten – das ist ein ganz eigenes Thema. Das Verhältnis ist eine Art politische Parallelaktion, bei der die eine Ebene mit der anderen scheinbar gar nichts zu tun hat. Wer in Brüssel A sagt, behauptet daheim munter B. Wer hüben eines macht, tut drüben gelegentlich das Gegenteil.

Neu ist das nicht. Diese Schizo-Politik wurde schon oft und wortreich beklagt. Selten allerdings sind ihre Auswirkungen so tragisch wie in der Flüchtlingsfrage. Das illustriert auch der jüngste Vorstoß der österreichischen Minister für Justiz und Inneres, die die Europäische Kommission beim Europäischen Gerichtshof verklagen und, wie es heißt, damit "unter Druck setzen" wollen.

Natürlich ist der Umgang mit dem zunehmenden Zustrom von Flüchtlingen eine europäische Herausforderung. Und natürlich ist es ein legitimes nationales Interesse Österreichs, dass Lasten gemeinsam geschultert und Asylwerber in der Union einigermaßen gleichmäßig verteilt werden. Aber Wien ist eben nicht nur Wien, sondern auch Brüssel. Und so besehen kommt die Klagsdrohung einer Selbstanklage gleich, in der ausführlich dargelegt wird, dass sich die hiesigen politischen Amtsträger dazu entschlossen haben, das Problem zu verschleppen, statt es in Angriff zu nehmen oder vielleicht gar zu lösen. Hauptsache, den schwarzen Peter in der öffentlichen Meinung hat ein anderer im Blatt – am besten die EU, weil die weit weg und allenfalls weniger lästig als der Koalitionspartner oder die Opposition ist.

Das offenbart zumindest ein erschütterndes Missverstehen gemeinsamer europäischer Politik, wahrscheinlich aber sogar einen bewussten Akt politischer Rosstäuscherei. Ob der Vorstoß nun in der Regierung abgesprochen war und überhaupt eine juristische Grundlage hat, ist angesichts dessen beinahe schon gleichgültig.

Nachdem im Frühjahr 900 Menschen im Mittelmeer ertrunken waren, legte die EU-Kommission auf Aufforderung der Mitgliedstaaten Ende Mai einen 23-seitigen Aktionsplan in zehn Punkten vor. Als Nummer sieben findet sich dort die Ansage, dass Flüchtlinge in der Union zu verteilen seien. Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende Juni dann wurde sieben Stunden lang auf Mord und Brand gestritten, wer denn freiwillig seinen Teil von 60.000 in Italien und Griechenland angelandeten Menschen aufnehmen solle. Österreich verweigerte damals – aus gutem Grund, denn die Republik nimmt im Vergleich tatsächlich viele Menschen auf.

Gerade deswegen ist die Klagsdrohung jetzt nicht das Übernehmen, sondern ein Wegschieben von Verantwortung. Denn damit wird in der Sache nichts Substanzielles bewirkt. Regierungsmitglieder, die verantwortungsvolle Europapolitik machen wollen, sollten, statt zu klagen, in den Brüsseler Räten Anstrengungen unternehmen, die – etwa bei Briten, Polen, Spaniern oder Finnen – jene Solidarität herstellen, die einer politischen "Union" würdig sind.

Und selbst wenn statt Sachpolitik ausschließlich die Kulisse im Blick gewesen sein sollte: Das "Problem" wird sich nicht auflösen oder aussitzen lassen. Statt Parallelaktion ist nun in der Tat eine Politik gefragt – in Brüssel und in Wien. Das haben sich die Menschen verdient, die nach Österreich flüchten müssen. Und ebenso die Menschen, die bereits in Österreich leben. (Christoph Prantner, 19.8.2015)