Neue Hiobsbotschaften ängstigen die nach den verheerenden Chemie-Explosionen nicht mehr zur Ruhe kommenden Einwohner in der Hafenmetropole Tianjin. Meteorologen sagten am Dienstag der Millionenstadt starke Regenfälle voraus, die zu neuen Katastrophen führen könnten. Das sind schlechte Nachrichten. Denn die Spezialeinheiten der Armee zur Bekämpfung von Chemiewaffen, tausende Feuerwehrleute und Zivilschutz sind mit ihren Aufräumarbeiten noch lange nicht fertig.

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Eigentlich wollten sie bis Montagnacht 700 Tonnen hochgiftigen Natriumcyanids, die im Unglücksfrachthafen Ruihai Logistics liegen, weitgehend neutralisiert, eingedämmt oder abtransportiert haben. Doch am Dienstagmorgen war erst ein Viertel der Menge entschärft. Anhaltender Regen würde nun die "Rettungsarbeiten komplizieren. Die Verseuchung könnte sich in den Hafen hinaus verbreiten", warnten die Meteorologen nach Angaben der Nachrichtenagentur Xinhua. Sie rechneten gar mit einer Gewitterfront über dem Gefahrenort.

Am Morgen war es noch trocken, als nach traditioneller Sitte – sieben Tagen nach einem Unglück – Behörden, Helfer und Gruppen von Bürgern mit öffentlichen Trauerzeremonien der 114 gestorbenen Menschen gedachten. Vom Hafen her ertönten Schiffssirenen. Im Mittelpunkt der Andachten standen die vielen Feuerwehrmänner, die als Erste Opfer der Explosion wurden, über die die Stadtregierung Tianjin noch immer nicht sagen kann, wie es zu ihr gekommen ist.

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Unsachgemäß versprühtes Lösch- und Kühlwasser, das mit Chemikalien reagierte, könnte ein Auslöser gewesen sein. Denn auf dem Katastrophengelände liegen neben dem nicht explosiven Natriumcyanid auch gigantische Mengen anderer Chemikalien, die leicht entzündlich sind. Gegenüber Xinhua machte sich einer der Armeespezialisten wegen der angekündigten Regenfälle Sorgen, dass es wieder zu neuen Explosionen kommen könnte.

Nach Armeeangaben sollen auch noch 800 Tonnen Ammoniumnitrat und 500 Tonnen Kalisalpeter auf dem Gelände liegen. Insgesamt habe die Firma Ruihai zum Zeitpunkt des Unglücks 40 verschiedene Chemikalien, die sie verschiffen wollte, in einer Menge von 3.000 Tonnen gelagert.

Wortkarge Behördenvertreter

Jeder Tag bringt neue Enthüllungen über den Skandal, der zum Fass ohne Boden wird. Doch auf ihrer täglichen Pressekonferenz blieben Tianjins Behördenvertreter am Dienstag wortkarg, wenn es um Fragen zu den Hintergründen des verantwortlichen Unternehmens Ruihai geht.

Doch der Fall kommt ins Rollen. Zehn der Gesellschafter und Mitarbeiter von Ruihai werden polizeilich vernommen. Überraschend wurde in Peking der Chef der chinesischen Kommission für Arbeitssicherheit, Yang Dongliang, von den ZK-Kontrolleuren für Parteidisziplin, den Korruptionsbekämpfern der Parteizentrale, festgenommen. Ein Grund wurde nicht genannt. Yang arbeitete bis 2012 elf Jahre in Tianjin als Vizebürgermeister. Am Dienstag gab der Pekinger Staatsrat bekannt, ein weiteres Untersuchungsteam nach Tianjin zu schicken.

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Unterdessen hat die finanzpolitische Enthüllungszeitschrift "Caijing" in ihrer am Dienstag erschienenen Ausgabe aufgedeckt, wie es im Ruihai-Unternehmen drunter und drüber ging. Die Aufsichtsbehörden schritten nicht ein, informierten weder Firmen noch Anwohner, wer ihr Nachbar ist. "Zur jetzigen Tragödie konnte es kommen, weil die lokale Regierung das Recht anderer, Bescheid zu wissen, wer neben ihnen arbeitete, ignorierte oder geringachtete."

Das Magazin prangerte auf 14 Seiten eine Vielzahl schwerer Verstöße gegen Arbeitssicherheit und Verordnungen der im Dezember 2011 gegründeten Firma an. So besaß das auf Lagerung und Transport von Gefahrengütern spezialisierte und immer größer werdende Unternehmen erst ab 8. Mai 2014 eine amtliche und nur bis 16. Oktober 2014 befristete Genehmigung dafür. Niemand kontrollierte sie davor oder danach.

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"Caijing" fand auch heraus, dass Gefahrenguttransporte in der Region Binhai New Area im Übermaß angesiedelt wurden. Insgesamt 1.300 solcher Gefahrengutfirmen seien auf engstem Raum konzentriert. Extreme Mengen an gefährlichen Gütern würden täglich über den Hafen und mehrere Autoanbindungen umgeschlagen. "Caijing" zitierte aus einem Dokument zur Sicherheit von Binhai. Seit 2012 sei es pro Jahr zu durchschnittlich 20 Chemieunfällen gekommen.

Stechende Chemiegerüche

Ruihai sei oft fahrlässig mit der Fracht umgegangen, um den Umschlag schnell zu steigern. Das Geschäft ist lukrativ: Für Gefahrenguttransporte kassierte die Firma mindestens 40 Prozent und oft bis zu einem Vielfachen mehr als für Normalfracht. Nachbarn fielen stechende Chemiegerüche nicht richtig isolierter Fracht auf. Die Behörden reagierten nicht. Ruihai-Arbeiter sollen zudem nicht ausgebildet worden sein. Sie hätten selbst in höchster Sommerhitze Container laden und entladen müssen. Andere Spezialfirmen für Gefahrengüter setzten solche Arbeiten bei hohen Temperaturen aus Sicherheitsgründen aus. (Johnny Erling aus Peking, 18.8.2015)