Vergangene Woche hat Amnesty International Österreich (AI) das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen besucht. AI-Generalsekretär Patzelt sagt, die dramatische Situation im Lager sei nicht der großen Zahl an ankommenden Flüchtlingen geschuldet, sondern der "Untätigkeit" der Politik in den Monaten davor. Die Fragen stellte Maria Sterkl.
STANDARD: In Traiskirchen gibt es einen Aufnahmestopp, jetzt werden Asylsuchende aber am Nachbargrundstück in Bussen untergebracht. Wie erklären Sie sich das?
Patzelt: Der Aufnahmestopp ist gerechtfertigt – aber es gibt keinerlei Antwort darauf, was mit den Menschen passiert, die weiterhin kommen. Jetzt findet man eine Lösung, wo sie nicht aufgenommen werden, aber registriert werden. Ursprünglich hätten sie auf dem Boden geschlafen, dann hat man Busse hingestellt, die im Sommer 60 Grad heiß sind – das ist keine Lösung.
STANDARD: Sie haben von einem Suizidversuch im Lager erzählt. Ist das ein Einzelfall oder kam das schon mehrmals vor?
Patzelt: Diese Frage haben wir gestellt, wir konnten nichts konkret verifizieren. Ich glaube nicht, dass ein Suizid vertuscht wird.
STANDARD: Gibt es Vorkehrungen, damit Suizidneigungen nicht verstärkt werden – ein psychologisches Screening etwa?
Patzelt: Es gibt dort nur drei Menschen, die als Psychologen arbeiten. Auf dem Papier existiert die psychologische Betreuung zwar, aber die Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben und die psychologische Betreuung benötigt hätten, haben bisher keine bekommen. Wissen Sie, was mich so erschüttert hat? Wir haben eine lange Frageliste, die wir in Flüchtlingslagern stellen. Die geht bis hin zur Frage, wie barrierefrei das Zentrum für ältere Flüchtlinge ist. Wir sind überhaupt nicht bis zu dieser Stelle gekommen – weil wir bei Basisdingen schon so fassungslos waren. Da hätten wir drei oder vier Tage dort sein müssen.
STANDARD: Sie sagen, es wäre möglich, einiges zu verbessern, ohne dass es viel kostet – Duschvorhänge oder Nummernausgaben bei den Warteschlangen etwa. Woran scheitert es dann?
Patzelt: Es kommt einem ja fast lächerlich vor, wenn ich Dinge wie einen Duschvorhang oder eine Wasserflasche in eine menschenrechtliche Kritik hineinschreiben muss. Aber die Summe dieser Kleinigkeiten senkt den Menschenrechtsstandard unter Null. Für keine Frau, für keinen Mann ist es angenehm, sich vor anderen Menschen nackt ausziehen zu müssen. In unserer Kultur wird man die Zähne zusammenbeißen und trotzdem Duschen gehen, wenn man eine Woche lang gestunken hat. Für Menschen aus Afrika ist das undenkbar. Der stirbt lieber, bevor er das macht. Deswegen ist das so dramatisch. Woran es scheitert? Ich unterstelle nicht einmal Bösartigkeit, denn Bösartigkeit verlangt Nachdenken. Ich vermute Desinteresse, völlige Gedankenlosigkeit, Wurschtigkeit. Nach dem Motto: "Wir haben einen Job zu machen, Menschenwürde steht nicht in unserem Leitbild" – so hat man den Eindruck.
STANDARD: Traiskirchen ist ja nur für die Erstaufnahme vorgesehen, Asylsuchende sollten dort so kurz wie möglich bleiben. Ist das derzeit so?
Patzelt: Das Zentrum war für maximal 1.500 Menschen geplant, die dort 96 Stunden bleiben. Jetzt gibt es Fälle, die seit Monaten im Lager sind, das dafür von vornherein schon ungeeignet ist – und wenn es dreifach belegt ist, noch viel ungeeigneter.
STANDARD: Ihr Bericht wird auch international wahrgenommen werden. Könnte es sein, dass andere EU-Staaten vor Dublin-Rückschiebungen nach Österreich zurückschrecken, weil eine ordentliche Versorgung nicht gewährleistet ist?
Patzelt: Die Frage ist berechtigt. Die Situation in Traiskirchen würde das wohl rechtfertigen – aber ich wünsche mir als Staatsbürger sehr, dass wir dieser Situation nicht ausgesetzt werden. Andere Mitgliedsstaaten würden es bei Österreich aber nicht akzeptieren, weil klar ist, dass das nicht ein Nicht-Können, sondern schlichtweg ein Nicht-Machen ist. Aber seien wir klar: Das Dublin-System ist längst tot. Es hat nie funktioniert. Wir brauchen endlich ein Quotensystem, das auf Wohlstand aufbaut.
STANDARD: Sie haben die Aussage der Innenministerin, es handle sich um einen Notstand, als lächerlich bezeichnet. Warum?
Patzelt: Es ist selbstverständlich ein Notstand für die dort lebenden Menschen, aber politisch ist es ein Pseudonotstand. Die Politik hat ihn selbst herbeigeführt, durch Untätigbleiben. Die Verteilung von Flüchtlingen auf ein Gentleperson's Agreement von Landeshauptleuten aufzubauen, ist kein Notstand. Österreich ist ein ressourcenstarkes Land mit hoher Verwaltungskompetenz und enormer Hilfsbereitschaft. Schauen Sie nur, was passiert, wenn Hochwasserkatastrophe ist. Das haben wir in Tagen gelöst. Hier geht es um ein Nicht-Wollen. Hände vor die Augen wie kleine Kinder, die sich dann nicht mehr vorm Gespenst fürchten.
STANDARD: Sie begrüßen das geplante Durchgriffsrecht. Verstehen Sie Bedenken, dass sich Gemeinden überfahren fühlen könnten?
Patzelt: Ich verstehe die, die Angst haben – die, die Angst machen, lehne ich restlos ab. Es gibt mehrere Dutzend Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, die einen pipifeinen Job machen. Wieso geht es nicht, dass die einen von den anderen lernen? Was nicht funktionieren kann, ist, dass man sich freiwillig entscheiden kann, ob man Flüchtlinge aufnimmt oder nicht. Denn natürlich kostet es Geld und Arbeit, und dann werden irgendwann die, die mehr tun als andere, sagen: "Moment, wir sind auch nicht die Deppen der Nation." Beim Durchgriffsrecht geht es nicht ums Drüberfahren über Leute – sondern darum, dass eine Aufgabe dann bewältigbar ist, wenn sie auf viele Köpfe verteilt wird. Wenn sich 80 Prozent aus der Verantwortung verabschieden, wird es für die restlichen 20 zum unlösbaren Problem. Das gilt es zu stoppen.
STANDARD: Wie hat das Innenministerium bei Ihrer Besprechung auf die Vorwürfe reagiert?
Patzelt: Das Innenministerium hat sich sehr interessiert gezeigt, war willig zu einem transparenten Austausch und hat zugesagt, reagieren zu wollen. Ich hoffe sehr, dass das Innenministerium nächste Woche endlich tätig wird. (Maria Sterkl, 14.8.2015)