STANDARD: Frau Ministerin, haben Sie schon einmal die Serie "Vorstadtweiber" gesehen?
Karmasin: Ich habe jede Folge gesehen, ich bin ein Fan. Nach anfänglicher Skepsis ist auch mein Mann nicht mehr davon gewichen. Zum Schluss haben sogar die Kinder mitgeschaut, was eine hohe Auszeichnung ist.
Sicheritz: Es ist eine hohe Auszeichnung, das zu hören. Es wird auch meine Kollegin Sabine Derflinger, die die ersten Folgen inszeniert hat, und Programmdirektorin Kathrin Zechner, von der die Idee zum Ganzen stammt, sehr freuen.
Karmasin: Es ist unterhaltsam, aber ich denke, die Serie hat auch einen tieferen Sinn. Wurde bei der Serie ein gesellschaftspolitischer Hintergrund verfolgt?
Sicheritz: Ich mag mit einer Gegenfrage antworten. Gibt es irgendeine Geschichte, die keinen gesellschaftspolitischen Hintergrund hat?
Karmasin: Die Frage war, ob Sie einen gewissen gesellschaftspolitischen Auftrag mit der Serie verfolgen?
Sicheritz: Ich kann nur für mich sprechen. Ich habe es gerne, wenn man in meinen Filmen die Nachbarin oder sich selbst wiedererkennt. Und natürlich schimmert mein persönliches Moralgebäude durch. Wenn jemand etwas tut, was nicht in Ordnung ist, hätte ich gerne, dass es früher oder später dafür eine Strafe gibt.
Karmasin: Auch eine soziale Strafe? Im Sinne von gesellschaftlicher Ächtung?
Sicheritz: Das Schönste ist, wenn sich die Akteure selbst entlarven.
Karmasin: Ich finde an der Serie spannend, dass Personen gezeigt werden, von denen man landläufig denkt, diese sind nachahmenswert und attraktiv. Die Frau in einer schönen Villa oder der erfolgreiche Politiker. Beim näheren Hinschauen merkt man, dass bei jedem Einzelnem der Hund drin ist, die Falschheit oder die Gemeinheit. Gesellschaftspolitisch finde ich interessant, dass diese vermeintlich attraktiven Lebenskonzepte in eine Sackgasse führen. Man sieht Frauen, die keine Ausbildung haben, vom Mann abhängig sind, aus sozialen Zwängen dort bleiben, wo sie sind, und ihre Sexualität nicht leben können. Die Serie verbreitet eine schöne Botschaft, nach dem Motto "Bitte schaut's doch zweimal hin".
STANDARD: In der Serie kommt auch die Politik nicht besonders gut weg, Stichwort Korruption. Können solche Darstellungen zur Politikverdrossenheit beitragen?
Karmasin: Dass Politiker grundsätzlich korrupt sind und eine eigene Agenda haben, das ist ebenfalls ein Stereotyp, das es leider auch in unserer Gesellschaft gibt und in dieser Serie nicht widerlegt wird.
Sicheritz: Bislang nicht. Klischees kommen ja nicht von ungefähr.
Karmasin: Diesen Politikertypus gibt es heute nicht mehr.
Sicheritz: Ist das so?
Karmasin: Zumindest gibt es diesen Politikertypus nicht mehr in der Regierung.
Sicheritz: Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Aber in mir entsteht der Verdacht, dass Sie in der Politik sind, weil Sie wirklich etwas verändern wollen. Stimmt das?
Karmasin: Ja, ich meine es ernst, ich will etwas für die Familien in diesem Land verändern.
Sicheritz: Ist dieser Zugang unter Politikern mehrheitsfähig?
Karmasin: Lassen Sie es mich so sagen: Es gibt Verbündete.
Sicheritz: Ich habe auch den Verdacht, dass der Anteil der Glücksritter – also Menschen, die fachlich nicht besonders sind, aber gute Netzwerke haben – in der heimischen Politik recht hoch ist.
Karmasin: In der Politik geht es nicht nur um Sachkompetenz und um analytische Fähigkeiten. Es gibt ganz andere Qualitäten und Fähigkeiten, die man in der Politik haben muss, um Erfolg zu haben.
STANDARD: Die da wären?
Karmasin: Es gibt Mechanismen, die man als Außenstehende nicht für möglich hält. Und man benötigt sehr viel Geduld. Entscheidungen und Umsetzungen laufen oftmals langsam. Als Ministerin entscheidet man nur vermeintlich allein. In Wahrheit gibt es viele Stakeholder, deren Positionen mit berücksichtigt werden müssen.
STANDARD: Viele meinen, dass die große Koalition das Land lähmt. Wie sehen Sie das? Würde in einer anderen Konstellation mehr weitergehen?
Karmasin: Das kann ich nicht beurteilen. Dann würde es wohl andere Probleme geben.
STANDARD: Frau Ministerin, würden Sie einer schwarz-blauen Regierung zur Verfügung stehen?
Karmasin: Nein.
Sicheritz: Wie geht man als Politikerin mit dem Gruppenzwang um, den es in der Parteipolitik ja zweifelsohne gibt?
Karmasin: Das ist eine ambivalente Geschichte. Es ist klar, dass eine Partei mit einer einheitlichen Meinung auftreten muss. Für mich ist das vertretbar. Meine Meinung deckt sich zu 80 Prozent mit jener der ÖVP. Dennoch bin ich als Parteifreie von niemandem abhängig.
STANDARD: Ist es in Ihrer Position einfacher, parteifrei zu sein?
Karmasin: Manchmal denke ich mir, es wäre vielleicht leichter, nicht parteifrei zu sein. Im politischen Geschäft gibt es Lobbys und Bünde. Wenn man diese im Hintergrund hat, dann hat das durchaus Vorteile.
STANDARD: Die Vorstadtweiber führen trotz aller Abgründe ein privilegiertes Leben. Besteht in Österreich in Hinblick auf Zukunftschancen ein gravierender Unterschied, ob man in finanziell bessergestellten Verhältnissen aufwächst oder eben nicht?
Karmasin: Das besagen sämtliche Studien. Es geht nicht nur um Bildungschancen, sondern um tiefliegende psychologische Mechanismen, die in einem sozialen Umfeld gelernt oder genetisch übertragen werden. Geduld ist die ausschlaggebende Kompetenz. Diese Geduld ist in der Oberschicht vermutlich stärker ausgeprägt.
STANDARD: Die Geduld der Eltern mit ihren Kindern?
Karmasin: Ich meine, die Fähigkeit des Kindes, geduldig zu sein. Die Frage, ob ich es als Kind schaffe, meine Wünsche für eine spätere Belohnung zurückzustellen, ist entscheidend für den Bildungsweg und das Lebensglück des Kindes. Wer zum Beispiel eine Ausbildung abschließen will, braucht Geduld. Das ist ein starker psychologischer Faktor, der im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld steht. Bildung ist die Konsequenz dessen, dass Familien Belohnungsaufschub gelehrt haben.
Sicheritz: Das setzt natürlich voraus, dass die Welt, in der man den "Belohnungsaufschub" lernt, zuverlässig ist. Irgendwann muss es sie dann geben, die Belohnung. Ich bin ein gutes Beispiel dafür. Ich bin ein Kreisky-Akademiker, ich wurde mit Bildungschancen belohnt. Wo ich herkomme, war es nicht vorgesehen, dass man an eine Universität geht. Das dürfte mittlerweile besser sein.
STANDARD: Nach wie vor sind nur zehn Prozent der Studenten an den Universitäten sogenannte Arbeiterkinder.
Sicheritz: Da sind wir noch nicht an dem Punkt, wo wir hinmüssen.
Karmasin: Wie gesagt, es geht nicht nur um die Bildung der Eltern. Leider gibt es schlechte und verwahrloste Situationen, in denen Kinder aufwachsen. Deshalb ist auch der Kindergarten so wichtig. Was Frühkindpädagogik betrifft, sind wir im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt. Wir arbeiten daran, aber leider dauert auch das sehr lange. Auch dort müssen Kinder Geduld lernen.
Sicheritz: Geduld ist ein gutes Stichwort. Wie lange müssen Frauen, etwa meine Schauspielerinnen, noch warten, bis sie gleich viel bezahlt bekommen wie ihre männlichen Kollegen?
Karmasin: Das ist eine multidimensionale Geschichte. Frauen gehen in Berufsfelder, die schlechter bezahlt sind, beziehungsweise werden diese Berufe schlechter bezahlt, weil dort überwiegend Frauen tätig sind. Sie machen weniger Überstunden. Zudem hat finanzielle Unabhängigkeit für Frauen noch immer nicht denselben Stellenwert wie für Männer.
STANDARD: Für die Frauen oder für die Männer?
Karmasin: Für die Frauen. Finanzielle Unabhängigkeit ist nicht die oberste Priorität für Frauen.
STANDARD: Gibt es nicht gesellschaftliche Kräfte, die ein Interesse haben, dass diese Rollenbilder erhalten bleiben?
Karmasin: Natürlich gibt es Männer, die es ganz gut finden, dass manche Bereiche ihnen allein bleiben. Es gehören zwei dazu. Die einen, die drücken, und die anderen, die es akzeptieren. Aber wie gesagt: Die finanzielle Unabhängigkeit hat für viele Frauen keine Priorität. Das Modell wird von Frauen und Männern getragen.
Sicheritz: Wie viel Geduld müssen Frauen noch haben, bis sich etwas bewegt?
Karmasin: Ich würde vorschlagen, dass Frauen bei Wahlen die Parteien danach bewerten, wie diese mit dieser Frage umgehen.
STANDARD: Handelt die ÖVP im Sinne der Frauen?
Karmasin: Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das der Politikerin und das der Unternehmerin. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, es braucht mehr Partnerschaftlichkeit im Alltag.
STANDARD: Herr Sicheritz, die "Vorstadtweiber" machten von sich reden, weil der ORF eine Szene herausschneiden ließ – es ging um ein Wortspiel, in dem Strache als schwul bezeichnet wurde. Kommt Zensur öfters vor?
Sicheritz: Bei den Produktionen, die mich der ORF machen lässt, kommt Zensur eigentlich nie vor. In besagter Szene wurde über Herrn Strache letztlich das Gegenteil behauptet. In der Rechtsabteilung des ORF ist dennoch jemand nervös geworden. Dass das Entfernen der Szene dann nicht ganz gelungen ist, finde ich hochkomödiantisch. Ich bin allerdings kein Freund der plumpen Polemik. Man kann Gesellschaftskritik auch betreiben, ohne Namen zu nennen.
STANDARD: Herr Sicheritz, wenn Sie Regie führen könnten im Arbeitsalltag der Frau Ministerin, was würden Sie dann machen?
Sicheritz: Zuerst müsste ich sie einmal lang beobachten, weil ich keine Ahnung habe vom Alltag einer Familienministerin.
STANDARD: Frau Ministerin, könnten Sie einen Film drehen, wie würde dieser dann heißen?
Karmasin: Tatsächlich denke ich über ein Buch nach. Es heißt Inside Politics. (Katrin Burgstaller, 13.8.2015)