Der Diener Pulcinella (Laiendarsteller Sergio Vitolo) wird ausgeschickt, um einen kleinen Büffel zu retten: eine zart-kluge Mission im Film "Bella e perduta" von Pietro Marcello.

Foto: Filmfestival Locarno

Seit fünfzehn Jahren hat der polnische Autorenfilmer Andrzej Zulawski, am besten bekannt für sein irritierendes und zensiertes Horrorstück Possession aus den Achtzigerjahren mit Isabelle Adjani, keinen Film gedreht. Dass sein lange erwarteter Cosmos nun in Locarno seine Uraufführung feiert, passt hervorragend in die Ausrichtung des bisherigen Wettbewerbs: Bis auf wenige Ausnahmen dominiert hier ein experimentierfreudiges und neugieriges Kino, das Arbeiten junger Regisseure ebenso umfasst wie jene von renommierten Filmemachern wie Otar Iosseliani mit seiner Groteske Chant d'Hiver oder Chantal Akerman mit ihrem Porträtfilm No Home Movie.

Dass es Zulawski gelingt, aus dieser beachtlichen Bandbreite dennoch herauszuragen, liegt an seinem nach wie vor kompromisslosen Zugang, mit dem er sich nun dem 1965 erschienenen Roman des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz nähert. Diese Kompromisslosigkeit ist selbstverständlich kein Zufall, sondern angesichts der Werke des Exzentrikers Gombrowicz schlichte Notwendigkeit, auch auf die Gefahr hin, für große Ratlosigkeit bei Publikum und Kritik zu sorgen.

Zulawskis Interpretation – eine klassische Adaption wäre auch kaum vorstellbar – verstört allerdings nur dann, wenn man nicht bereit ist, diesen Figuren, die sich allen konventionellen Spielregeln widersetzen, zu folgen. Begleitet man sie hingegen auf ihrer wahnwitzigen Reise, erkennt man in ihnen die Sehnsucht nach radikaler Freiheit.

Welt in Auflösung

Zulawski schickt seinen jungen Helden Witold (Jonathan Genet), einen hageren Studenten mit stechendem Blick, gemeinsam mit seinem fröhlichen Kollegen (Johan Libéreau) als Untermieter in eine Familienpension, wo sie ein Figurenkabinett der besonderen Art erwartet: ein Dienstmädchen mit entstelltem Mund, eine wiederholt in Starre verfallende Mutter, ein sich in Wortneuschöpfungen übender Vater, eine die Sinne raubende, wunderschöne Tochter.

Die erhängten Spatzen, die sie hinter dem Haus am Waldweg finden, sind die Vorboten dessen, was die Ankömmlinge an Irrsinn erwartet – den sie aber nicht als Außenstehende erfahren, sondern dessen Teil sie bereits sind. Cosmos zeigt eine Welt in Auflösung und sollte als schwarze Satire so ernst genommen werden wie sein beißender Humor.

Pulcinellas Büffel

Eine gänzlich andere Form von bizarrer Komik beweist der Italiener Pietro Marcello, der mit Bella e perduta den sicher wehmütigsten Wettbewerbsbeitrag vorgestellt hat. Die Komik in diesem Film ist nämlich zugleich voller Traurigkeit: Pulcinella (Laienschauspieler Sergio Vitolo), der dumme Diener, wird nach Kampanien geschickt, um einen kleinen Büffel zu retten. Dessen Herr hatte sich – im Kampf zwischen Camorra und Staat – bis zu seinem Tod erfolgreich um die Rettung eines verfallenden Landsitzes bemüht und das Tier bei sich aufgenommen. Pulcinella bringt den Büffel also in den Norden – um erkennen zu müssen, dass diese Welt zu klein ist für alles Unmenschliche.

Vielleicht bekommen die Menschen ja alle irgendwann Flügel und fliegen für immer davon, wie es sich auch der am Ende der Reise große und stolze Büffel erträumt, der voller Weisheit zu uns spricht. Es sind die zärtlichsten Worte, die man dieser Tage hier im Kino zu hören bekommen hat, in einem der zärtlichsten Filme, die man sich wünschen kann. (Michael Pekler aus Locarno, 12.8.2015)