1988 kam es neben in Belgrad u.a. auch in Novi Sad (im Bild) zu Arbeiterprotesten gegen Korruption und Ungerechtigkeiten innerhalb des sozialistischen Systems.

Foto: Reproduktionen aus "Rad" durch Goran Music und Rory Archer

Protestierende Arbeiter in Belgrad 1988.

Foto: Reproduktionen aus "Rad" durch Goran Music und Rory Archer

Graz – Als es wenige Jahre vor dem Zerfall Jugoslawiens immer häufiger zu Arbeiterprotesten in Serbien kam, demonstrierten die Menschen vor allem für bessere Löhne und Lebensbedingungen. Während Slobodan Milos evic, damals Führer der Kommunistischen Partei, auf diese Anliegen lange kaum eingegangen war, erschien er im Oktober 1988 erstmals auf einer Großdemo bei Belgrad und versprach, alle Forderungen zu erfüllen und auch das Problem der diskriminierten serbischen Minderheit im autonomen Kosovo zu lösen. Die Protestierenden jubelten, und die serbischen Medien feierten Milosevic als charismatischen Führer.

Die Schlagzeile "Sie kamen als Arbeiter und gingen als Serben" wurde zum geflügelten Wort. Aber traf diese Einschätzung zu? Folgten die Arbeiter tatsächlich wie Schafe einem nationalistischen Demagogen? War die nationalistische Ideologie schon früher verbreitet in der Arbeiterschaft? "Bis jetzt hat die Forschung nicht zu verstehen versucht, was hier wirklich passierte", sagt Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien an der Karl-Franzens-Universität Graz. "Zwar haben sich viele Studien mit dem Verhalten der Intellektuellen vor und während der Jugoslawienkriege beschäftigt, nicht aber mit der Rolle der Arbeiterschaft, der ein besonderer Hang zum Nationalismus unterstellt wurde."

Um eine differenziertere Beur-teilung der Arbeiterklasse als zentrale politische und demografische Kraft im sozialistischen Jugoslawien zu ermöglichen, untersucht der Osteuropaexperte gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Rory Archer und Goran Music zurzeit die Zusammenhänge zwischen sozialer Klasse und Nationalismus in vier Arbeitergemeinden in Serbien und Montenegro. "Uns interessieren die verschiedenen Herangehensweisen, mit denen einfache Menschen in ihrem Alltag politische Prozesse besprochen, unterlaufen und geformt haben", sagt Bieber.

Ein von den Arbeitern heiß diskutiertes, öffentlich aber tabuisiertes Thema war in den späten 1980er-Jahren vor allem die große Ungleichheit innerhalb der sozialistischen Gesellschaft. Einerseits lebten Manager und Höherqualifizierte durch zahlreiche Privilegien wie erleichterten Zugang zum sozialen Wohnbau oder Ähnliches deutlich besser als die einfachen Arbeiter, die unter der Wirtschaftskrise besonders gelitten haben. Obwohl offiziell sämtliche Fabriken in Kollektivbesitz waren, wurden sie von der lokalen Managerklasse zu deren Gunsten kontrolliert. Andererseits gab es auch ein massives Wohlstandsgefälle von Nord nach Süd in den verschiedenen Teilrepubliken.

Steigende Ungleichheit

"Trotz intensiver Bemühungen ist diese Ungleichheit während der sozialistischen Zeit sogar noch weiter angestiegen", sagt Music. "Die wirtschaftliche Kluft zwischen dem traditionell viel stärker industrialisierten Slowenien und dem Kosovo war 1949 geringer als 1989." Viele der untereinander konkurrierenden, autonom geführten Fabriken vor allem in den südlichen und östlichen Teilrepubliken fühlten sich in puncto Finanzierung von der Bundesregierung benachteiligt.

Ein heißes Eisen war neben der wirtschaftlichen Ungleichheit auch die Situation der diskriminierten serbischen Minderheit im Kosovo. Nicht nur die Arbeiterschaft reagierte damit auf die Propaganda der serbischen Medien, die das Thema massiv aufbauschten. "Damals richtete sich der Zorn der Arbeiter vor allem gegen den albanischen Chauvinismus, der als konterrevolutionär abgelehnt wurde", sagt Archer. "Man engagierte sich zunächst noch nicht für 'serbische' Rechte, sondern für Gleichheit und Einheit im Kosovo – also für das jugoslawische Projekt, das man durch albanische Separatisten bedroht sah." Es war dieser Konflikt, der schon in den frühen 1980er-Jahren bewirkte, dass rund 95 Prozent aller politischen Gefangenen in Jugoslawien Kosovo-Albaner waren.

Der Zorn wird umgeleitet

Ende der 1980er-Jahre übernahm die politische Elite die in der Bevölkerung gärenden Reizthemen soziale Ungleichheit und Kosovo und adaptierte sie für ihre Zwecke: "Man nahm den Fokus von den Spannungen innerhalb einer Republik oder Fabrik und verschob ihn auf die nationale Ebene", sagt Bieber. Da die herrschende Ideologie des sozialistischen Jugoslawien dezidiert antinationalistisch war, habe die Arbeiterschaft den Nationalismus als oppositionelle Haltung gegen die privilegierte Funktionärsklasse aufgegriffen.

Bieber: "Der Groll gegen die Privilegierten in der eigenen Fabrik wurde auf die besser gestellten Teilrepubliken konzentriert." Damit waren es nicht mehr die Funktionäre in der persönlichen Umgebung, die das System missbrauchen, sondern nur noch "die privilegierten Slowenen oder Kroaten", die auf Kosten der anderen Republiken ein besseres Leben führten.

"Die Elite wusste, dass das System unter starkem wirtschaftlichem und politischem Druck stand, und musste reagieren", sagt Bieber. Statt nachhaltige Reformen für das ganze Land einzuleiten und sich damit eventuell selbst abzuschaffen, habe man die Unzufriedenheit gezielt auf die anderen Teilrepubliken gelenkt. "Dies gelang auch deshalb so gut, weil die Arbeiter in Jugoslawien nicht national, sondern nur regional organisiert waren und die Gewerkschaften unter Parteikontrolle standen", sagt Archer.

Wie die Forscher betonen, seien zudem durchaus nicht alle Arbeiter zu Nationalisten geworden: "Das ist ein Mythos", betont Music. "In Rakovica etwa, einem Industrievorort von Belgrad, gab es sogar Proteste, weil Milosevic die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllt hat. Es gab viele, die nicht auf seine nationalistische Propaganda eingegangen sind." (Doris Griesser, 12.8.2015)