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Der zweite Roman der in Zürich lebenden Schriftstellerin Dana Grigorcea setzt sich mit der Geschichte Bukarests auseinander.

Foto: APA / Gert Eggenberger

Wien – Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit. Die ersten Erinnerungen sind ebenso im Jetzt vertreten wie die letzten; ob die Erfahrung des ersten Kusses oder die der ersten Prügel zu Bewusstsein kommt, hängt oft davon ab, durch welche Straßen man gerade läuft, was man riecht oder hört. Diese Eigentümlichkeit des Erinnerns prägt das Erzählverfahren des zweiten Romans Dana Grigorceas.

In Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit (Dörlemann-Verlag) ruft das Bukarester Regierungsviertel die Vergangenheit in die Gegenwart. Nachdem die Bankangestellte Victoria einem Überfall und Mord beigewohnt hat, wird sie von ihrem Arbeitgeber beurlaubt. So freigestellt treibt die Icherzählerin nun durch die von Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend durchsetzte Stadt; der Gang durch das "mondäne" Viertel Bukarests wird für Victoria zum Gang durch allzu Vertrautes.

Sie erzählt in einem Ton von der gegenwärtigen und vergangenen Stadt, dem man das Bürgertum auch in der Zweitsprache anmerkt: Vom Stuntman als "Kaskadeur" zu sprechen passt in Häuser, in denen unbequemes Mobiliar des Kaisers steht, die Trampelpfade der Ahnen sich durch Perserteppiche ziehen und man sich nachts in die Kuhlen des Elternbettes legt wie "in Stein gemeißelte Tote auf dem Sarkophag." Grigorcea gelingt es, in und mit dieser Atmosphäre die Familiengeschichte ihrer Erzählerin mit zärtlichem Humor an die Geschichte Bukarests zu knüpfen. Dass der Roman über die nostalgischen Erzählungen nachbarschaftlicher Eifersuchtsmorde hinausgeht, garantiert die im Zentrum des Romans stehende Wende des kommunistischen Rumänien.

Schöne Bilder, traurige Jahre

Gleichzeitig drängt sich der Verdacht auf, der bürgerliche Gestus halte die brüchigen Fassaden der rumänischen Wendejahre eher aufrecht, als sie niederzureißen. Als ein Freund der Familie bei einem der Aufstände stirbt, wird eindrucksvoll von dessen Begräbnis erzählt: "Rapineau war so übel zugerichtet von den Schlägen der Bergarbeiter, dass man bei der Begräbnismesse sein Gesicht mit einem Taschentuch bedecken musste. Gestochen scharf kann ich mich an die Spuren von Lippenstift auf dem weißen Taschentuch erinnern."

Das so zärtlich gezeichnete Bild lässt den in rumänischer Geschichte nicht ganz so bewanderten Leser aber ein wenig ratlos zurück. Die Mineriaden sind kein Schulstoff, weswegen man eventuell googeln muss, um herauszufinden, dass es sich dabei um Protestaktionen handelt.

Gleichwohl lässt die nur latent bleibende offizielle Geschichte Platz für das, was Literatur leisten kann: Der Roman kann die Geschichte zwischen den Daten erzählen. Der Fiktion Grigorceas gelingt es immer wieder, die vielen Stimmungen Bukarests einzufangen. Nichts beschreibt die Sehnsüchte der im Kommunismus Lebenden besser als der Streit um einen Fernseher, der – mit farbiger Folie beklebt – westliches Fernsehen imitiert. Und nichts zeigt die Ernüchterung der ersten postkommunistischen Jahre besser als das Erscheinen des Erzengels Michael (Jackson): Er tritt drei Jahre nach Ceausescus Exekution auf den Balkon des gigantomanischen Präsidentenpalasts und grüßt das "Freiheit" skandierende Bukarest: "Hello, Budapest! [...] I love you!" Nichts hält, was es verspricht, auch der King of Pop nicht.

Grigorcea wurde für dieses gekonnte Erzählen mit dem 3sat-Preis des Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet. Zu Recht, mag man ob der Leistung meinen. Klaus Kastberger wünschte sich bei seiner Besprechung der Lesung zweihundert weitere Seiten. Hat man diese gelesen, ist man sich aber nicht mehr sicher, ob der Auszug nicht besser konnte, was der manchmal langatmige Roman wollte. (Florian Kutej, 10.8.2015)