Unter Rot-Grün wurde Hartz IV in Deutschland eingeführt. Umstritten ist die Reform bis heute.

Foto: karner
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Selbst Jürgen Weber weiß, dass die Demo nicht unbedingt der Renner wird. Die Sonne knallt auf den Asphalt der Potsdamer Innenstadt, einer der Mitorganisatoren hat einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, die Bürgerinnen der brandenburgischen Landeshauptstadt wollen um 18 Uhr nur noch Eis essen oder in einen der vielen schönen Seen springen.

Aber es nutzt ja nix. Montag ist. Und Montag ist Protesttag. Immer schon gewesen, schon bevor Hartz IV in Deutschland am 1. Jänner 2005 eingeführt wurde. Das waren noch Zeiten damals. Millionen Deutsche gingen auf die Straße, um gegen die einschneidenden Sozialreformen der rot-grünen Regierung von Kanzler Gerhard Schröder zu protestieren.

Protest im Internet

Mehr als zehn Jahre später ist die Zahl der Demonstranten in Potsdam recht überschaubar. Gerade mal zehn sind gekommen. "Na ja, das ist schon okay", sagt Weber, "haben wir uns wenigstens wieder einmal getroffen."

Die Demos sind ja nicht mehr ganz so wichtig. Heute läuft der Protest über das Internet. Natürlich hat auch Webers Verein eine Website. www.hartz-4-betroffene.com heißt sie, und der 52-Jährige pflegt sie akribisch. Es gibt kein Gesetz, keine Ausnahme davon, keine Vorschrift, die er nicht kennt. Er selbst lebt seit Inkrafttreten der Reform von Hartz IV.

Lange Suche

In der DDR und auch später, im wiedervereinigten Deutschland, hatte Weber viele Jobs. Er war Bautischler, Zimmermann, Vulkaniseur, Köhler, und zuletzt arbeitete er im Potsdamer Recyclinghof. Doch dann erkrankte er, seither ist er zu 30 Prozent behindert.

2001 kam die Kündigung. Und dann kam nichts mehr. "Klar hab ich mich beworben, ich wollte ja arbeiten, aber keiner wollte mich nehmen", sagt er. Zunächst erhielt er Arbeitslosengeld, doch mit Inkrafttreten der Hartz-Reformen rutschte Weber "in den Keller", wie er es selbst formuliert.

Das Geld ist knapp kalkuliert (siehe Infobox), der alleinstehende und kinderlose Weber muss auf vieles verzichten. Meistens ist er zu Hause, weil das Bier in der Kneipe würde gleich wieder ein Loch ins schmale Budget reißen. Besucht er manchmal Freunde? Oder sie ihn? Fehlanzeige. Denn: "Da sollte man doch wenigstens mal einen Kuchen mitbringen. Aber das ist nicht drin."

Gemüse und Obst sind teuer

Er schüttelt den Kopf und sagt mit fester Stimme: "Freunde kann ich mir nicht mehr leisten." Man merkt, dass er diesen Satz schon oft ausgesprochen hat.

Seinen Alltag beschreibt er so: Der Arzt sagt, er solle sich gesund ernähren. "Aber das kostet. Wissen Sie, wie teuer Obst und Gemüse geworden sind?" Also ist er ein Experte in Sachen Sonderangebote. Denn: "Wenn die Gurken billiger sind, dann kann ich auch eine zweite kaufen."

Lebensmittelspenden

Auch in Potsdam gibt es – wie in vielen deutschen Städten – die Tafel, die Lebensmittelspenden an Bedürftige verteilt. Weber könnte dort etwas holen. "Niemals!", sagt er und ist entrüstet. Zur Tafel nämlich hat er eine eigene Theorie: "Die wurde geschaffen, um die Menschen klein und in Abhängigkeit zu halten."

Tatsächlich decken bei den mehr als 900 deutschen Tafeln Zehntausende zumindest ihren Grundbedarf an Nahrung. "Wat meinen Se, wat los wär, wenn die nix mehr zu fressen hätten?", fragt er nun in schönstem Berlinerisch. "Sie würden ruck, zuck auf die Straße gehen und für Rambazamba sorgen. Aber das will der Staat ja nicht."

Abhängigkeit

Es ist diese Abhängigkeit von der staatlichen Obrigkeit, die ihn – nebst dem wenigen Geld – so wütend macht: "Millionen Menschen werden absichtlich kleingehalten und müssen um jeden Cent extra betteln."

Auch dagegen kämpft Weber mit seinem Verein an. Bei den Sozialgerichten ist sein Name nicht unbekannt. Da war zum Beispiel die Sache mit der Arbeitsverweigerung. Irgendwann wurde ihm die Kürzung der staatlichen Leistung angedroht, wenn er nicht einen "Ein-Euro-Job" annehme – zum Wohle der Gemeinschaft, die ihn ja auch finanziert.

Viele Klagen

Weber sollte mit einigen anderen in einem Potsdamer Naturschutzgebiet saubermachen und Wege reparieren. Kein Problem, hätte er ja auch gemacht. Aber: "Es gab dort keine Toilette." Sich in der Natur zu erleichtern fand er würdelos. Er verweigerte den Job, Hartz IV wurde ihm gekürzt. Weber zog vor Gericht und gewann.

An die zwanzig Verfahren hat er gegen den Staat schon geführt, die meisten erfolgreich. "Man muss sich wehren. Und wenn ich das mache, profitieren ja auch andere davon", sagt er.

Ruf nach Grundeinkommen

Er selbst hat auch genaue Vorstellungen, wie er das System ändern würde: "Wir brauchen ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden Menschen." Er hat es auch schon einmal durchgerechnet und kommt auf 1080 Euro im Monat.

Dann müssten die Menschen "nicht mehr so auf der Stelle treten" und würden auch wieder "kreativer" werden. Denn nichts lähme einen Menschen so wie Armut und Perspektivlosigkeit. Vielleicht geht er doch noch mal irgendwann in die Politik. Für die Linken zu kandidieren kann sich Weber vorstellen. Dann würde er für das Grundeinkommen kämpfen. Das wäre in seinen Augen eine echte Reform. Denn ansonsten "bedeutet Reform in Deutschland ja immer, dass es für die Betroffenen schlechter wird". (Birgit Baumann aus Berlin, 8.8.2015)