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In ihrem nun vorliegenden ersten Roman entpuppt sich Atticus Finch nicht als die Lichtgestalt, als die er in der "Wer die Nachtigall stört" -Verfilmung dargestellt wird: Harper Lee.

Foto: AP/Rob Carr

Es ist ein sorgfältig vorbereitetes literarisches Sommermärchen und spielt auf beiden Seiten des Atlantiks. Innerhalb einer Woche erschien der neue Roman von Harper Lee in englischer wie deutscher Sprache.

Er ist allerdings nicht "neu", sondern wurde angeblich bereits 1957 verfasst, noch vor Harper Lees globalem Erfolgstitel To Kill a Mockingbird, der im Jahr 1960 erschien (dt. Wer die Nachtigall stört ... , 1962). Ob die im kommenden Jahr 90-jährige Autorin den neuen Roman wirklich publiziert sehen wollte oder ob vielmehr ein eifriges Management die Strippen zog, ist unklar. Angeblich wurde das Manuskript vor kurzem in einem Banktresor wiederentdeckt, aber auch diese Geschichte ist widersprüchlich. Sicher ist der finanzielle Erfolg. Sicher ist auch, dass der Roman an einem literarischen Mythos der Vereinigten Staaten kratzt.

Mockingbird (globale Gesamtauflage: 40 Millionen) erschien zur Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, auch wenn er in der Great Depression der 1930er-Jahre spielt. Über hunderte von Seiten führt er uns, dabei dem Werk William Faulkners nicht ganz unähnlich, aufs Langsamste in die träge Komplexität des abseits gelegenen Provinzstädtchens Maycomb, Alabama, ein.

Die jungenhafte Ich-Erzählerin Jean Louise Finch, genannt "Scout", berichtet aus kindlicher Perspektive über eine Welt der Hitze und der Abstinenz, der Ungleichheit und des Rassismus, aber auch über die Möglichkeit der Liebe und Solidarität in Nachbarschaft und Familie, so zwischen der schwarzen Haushälterin Calpurnia und dem weißen Geschwisterpaar der Familie Finch. Scouts Hauptbezugspersonen sind ihr früh verwitweter Vater, Atticus Finch, ein Rechtsanwalt und verständnisvoller Vater, ihr Bruder Jem und ihr Freund Dill (Lees Kindheitsfreund Truman Capote nachempfunden).

Rassenproblematik

Erst spät im Roman kommt es zu der Gerichtsverhandlung, die in der Verfilmung von 1962 mit Gregory Peck als Atticus Finch zur Haupthandlung wurde – und damit die Rezeption des Romans entscheidend steuerte. Einem jungen Schwarzen wird fälschlich die Vergewaltigung der 19-jährigen Tochter eines verkommenen Weißen in die Schuhe geschoben; vermutlich hatte der Vater der jungen Frau sie selbst missbraucht, zumindest aber misshandelt.

Auch wenn Atticus als "nigger lover" bezeichnet wird und große Anfeindungen hinnehmen muss, nimmt er die Pflichtverteidigung mit großem Engagement wahr. Zwar gelingt es ihm nicht, die Geschworenen zu einem Freispruch zu bewegen; die Unschuld des Schwarzen, der kurz nach der Verurteilung bei einem Fluchtversuch erschossen wird, wird aber allen in der Stadt klar.

Politisch – vor allem aber auch menschlich – hat Atticus etwas bewegt, und seine humanistische Haltung beeindruckte nicht nur Tochter Scout und Maycomb, sondern millionenfach vor allem das US-amerikanische Lesepublikum, das in dem von einer Weißen geschriebenen Roman hoffnungsfroh einen Beitrag zur Bewältigung der Rassenproblematik des Landes sah. In einer Bearbeitung der Übersetzung von 1962 durch Nikolaus Stingl ist dieser Roman nun bei Rowohlt neu erschienen und wird auch in der gebundenen Ausgabe zweifellos eine breite deutschsprachige Leserschaft finden.

Einer solchen Lektüre von Mockingbird widerspricht, auch in der dominanten Meinung des Feuilletons – beginnend mit der Großkritikerin der New York Times Michiko Kakutani -, der neue, ältere Roman mit dem biblischen Titel Gehe hin, stelle einen Wächter. Er spielt in den 1950er-Jahren, in der Zeit der beginnenden Bürgerrechtsbewegung.

Die inzwischen erwachsene und in New York City lebende Jean Louise kehrt nach Maycomb (Harper Lees Heimatstadt Monroeville, Alabama) zurück und muss feststellen, dass der idealisierte Vater, aber auch ihr zeitweiliger Freund Henry, von denen Jean Louise erwartet hatte, dass sie sich der rassistischen Grundhaltung der Mehrheit widersetzen, Teil einer Organisation geworden sind, die sich – nahe am Ku-Klux-Klan – den als diktatorisch empfundenen antirassistischen Urteilen des Höchstgerichts und der Politik der Bundesbehörden zu widersetzen versucht. Dieser "patriotische" südstaatliche Sektionalismus geht einher mit einem schockierenden bis ins Biologische reichenden Rassismus, der fast allen paranoiden weißen Klischees Raum gibt.

Bankrotterklärungen

Unter dem Eindruck des angeblich kommunistisch geschürten Aktivismus der afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, bereits 1905 vom prophetischen schwarzen Intellektuellen W. E. B. Du Bois gegründet) entsteht ein Diskurs des Sich-wehren-Müssens, den Atticus vor seiner in New York zu neuem politischem Bewusstsein gelangten Tochter zu rechtfertigen sucht: "Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Kirchen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt? ... Willst du, dass unsere Kinder auf eine Schule gehen, deren Niveau gesenkt wurde, um es den Negerkindern anzupassen? ... Stell dir doch mal die Frage, was passieren würde, wenn alle Neger plötzlich volle Staatsbürgerrechte bekämen. ... Jean Louise, sie wollen uns zugrunde richten – wo bist du gewesen?"

Die Kritik, die an solchen Stellen den literarischen und moralischen Bankrott nicht nur dieses Romans, sondern auch von Mockingbird und der Autorin insgesamt diagnostiziert, hat aber trotzdem entschieden unrecht. Auch wenn Jean Louise, nachdem sie von ihrem Onkel einen Schlag in die Zähne kassiert hat – angeblich um sie aufzuwecken -, am Ende des Romans noch einmal über ihre Haltung (und insbesondere über ihre Vaterbeziehung) nachzudenken gewillt ist, bleiben ihre konsequenten Interventionen für die Schwarzen die eindrucksvollsten Teile des Romans.

Bei einer solchen Lektüre geht es nicht um die langeilige "Intention" der Autorin, sondern um die Möglichkeit von einzelnen Stimmen des Romans, einer emanzipierenden Weltsicht Ausdruck zu geben. "Du willst", sagt Jean Louise zu ihrem Vater, "bloß ihre Seele töten statt ihren Körper. Du willst ihnen bloß sagen: 'Hört mal, seid schön brav. Benehmt euch. Wenn ihr brav seid und auf uns hört, habt ihr viel vom Leben, aber wenn ihr nicht auf uns hört, geben wir euch nichts mehr und nehmen euch alles weg, was wir euch schon gegeben haben.'"

Solche Worte bleiben im Roman unwidersprochen, ebenso wie der deprimierende Satz Calpurnias, die die Kinder nach dem Tod der Mutter aufgezogen hatte, und deren Klugheit und moralische Integrität von niemandem in der Stadt in Zweifel gezogen wird. Am Ende eines sehr zurückhaltenden Dialogs mit Jean Louise fragt sie: "Was macht ihr alle mit uns?"

Atticus Finch, wiewohl kein rassistischer Einpeitscher, war eben nie der von Gregory Peck gegebene Held. Die Unbotmäßigkeit der kleinen Scout in Mockingbird - sie ist die eigentliche Heldin dieses Romans – entspricht der kämpferischen Haltung der erwachsenen Jean Louise in Wächter.

Die Schwarzen beweisen in beiden Romanen, dass sie kulturell viel weiter sind, als Atticus und Kollegen es wahrhaben wollen. Wo die Autorin stehen mochte oder mag, ist gleichgültig. Dass der neue Roman solche Stimmen zu Gehör bringt, macht ihn wichtig, gerade angesichts der neuen US-amerikanischen Rassenkonflikte der Gegenwart. (Walter Grünzweig, 2.8.2015)