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Proteste in Istanbul gegen die Angriffe auf kurdische Stellungen.

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Demonstration von Kurden vor der türkischen Botschaft in Wien.

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Der türkische Präsident Erdoğan wolle aus der Eskalation politisches Kapital schlagen, sagt Politikwissenschafter Cengiz Günay.

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STANDARD: Die Türkei wirft den syrischen Kurden vor, Araber und Turkmenen aus jenen Ortschaften in Syrien zu vertreiben, die sie von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zurückerobern. Lässt sich das unabhängig verifizieren oder widerlegen?

Günay: Diese Vorwürfe sind allein schon aufgrund der Situation in Syrien schwer zu überprüfen. Die türkische Regierung hat sie infolge einer Fluchtbewegung in Richtung Türkei erhoben, bei der nach lokalen Angaben vor allem Araber und Turkmenen vor kurdischen PYD-Kräften (Partei der Demokratischen Union, syrisch-kurdische Partei, Anm.) geflohen sind. Dieses Bild passt zu den Bedenken, die aus der Türkei grundsätzlich in Bezug auf den Syrienkonflikt laut werden.

STANDARD: Welche Bedenken sind das?

Günay: Man fürchtet, dass es den Kurden, vor allem der mit der PKK verbundenen PYD, darum geht, mittels eines zusammenhängenden Territoriums die Grundlage eines künftigen kurdischen Staates zu schaffen. In Ankara schwingt da bis heute das Trauma des Irakkriegs mit, als die damals neugewählte Regierung Recep Tayyip Erdoğans an der US-geführten Allianz teilnehmen wollte, vom Parlament aber zurückgepfiffen wurde. Dadurch war die Türkei aus Sicht Erdoğans gezwungen, tatenlos der Schaffung eines kurdischen De-facto-Staates im Nordirak zuzusehen. Anders als im Irak haben die nordsyrischen Kurden aber starke Verbindungen zur linksrevolutionären PKK, was für die AKP (derzeit Regierungs- und Präsidentenpartei, Anm.) noch viel bedrohlicher ist als die konservative, aus feudalistischen Strukturen entstandene Partei von Masoud Barzani im Irak.

STANDARD: Zumindest die offizielle türkische Syrienpolitik erweckte ja bisher eher nicht den Anschein von übermäßigem Aktionismus.

Günay: Die türkische Syrien-Politik war sicherlich nicht gerade von Neutralität geprägt. Einer ihrer größten Fehler war die klare und frühe Positionierung im innersyrischen Konflikt. Basis dafür war die Fehlkalkulation, dass das Assad-Regime relativ schnell fällt und man sich dann leichter mit den neuen Machthabern einig wird, wenn man von Anfang an auf der richtigen Seite steht. Das Ziel der Türkei war die Einheit Syriens zu erhalten, um eine kurdische Entität vor der eigenen Grenze zu verhindern. Darum hat Ankara von Beginn an die größte Gruppe in Syrien unterstützt, die sunnitischen Araber. Je kleinteiliger der Konflikt und die Oppositionsgruppen wurden, desto mehr geriet die Türkei in den Sog des Konflikts.

Wer genau von der Türkei unterstützt wird, ist unklar, es gibt aber den Verdacht, dass auch der IS davon profitiert hat. Die Regierung dementiert dies. Klar ist aber, dass die Aktivitäten der Türkei in Syrien höchst undurchsichtig sind. So stehen etwa die Gendarmen, die im vergangenen Jahr mehrere Lkws auf dem Weg zur syrischen Grenze aufgehalten haben, nun vor Gericht. Zu Beginn beteuerte man, es hätten sich in den Lkws nur Hilfsgüter befunden, später gab man Waffenlieferungen zu, die den syrischen Turkmenen gegolten hätten, allerdings haben diese das dementiert.

STANDARD: Was verspricht sich Erdoğan innenpolitisch von der Kampagne gegen die PKK?

Günay: Die große Frage ist, warum es gerade jetzt zu einer solch starken Eskalation gekommen ist. Erdoğan hatte vor wenigen Jahren erst den Friedensprozess mit der PKK eingeleitet. Indem er diese überhaupt erst einmal als Ansprechpartner akzeptiert hat, gab es zum ersten Mal die Chance, diesen alten und enorm militarisierten Konflikt auf dem Weg des Dialogs zu lösen. Dieser Prozess ist in den vergangenen eineinhalb Jahren immer mehr in die Krise geraten. Seit Erdoğan Präsident ist, ist er endgültig ins Stocken geraten.

Kurz vor den Parlamentswahlen kam es zu einer Einigung zwischen der Regierung Davutoğlu und den kurdischen Vertretern auf die Bildung einer Beobachterkommission, was von Erdoğan unverständlicherweise torpediert wurde. Ganz offensichtlich hatte der Friedensprozess mit der PKK auch taktische Gründe, was Wählerstimmen für die AKP betrifft. Und nun scheint dieses Taktieren auch das Kalkül hinter der Beendigung dieses Prozesses zu sein. Er ist aus Sicht Erdoğans politisch einfach nicht mehr opportun. Natürlich muss man der PKK auch vorwerfen, dass sie auf Erdoğans Eskalationsmanöver willig und sehr schnell eingestiegen ist.

STANDARD: Wie erklärt sich der radikale Kurswechsel Erdoğans gegenüber dem IS?

Günay: Das hängt einerseits auch mit dem Strategiewechsel gegenüber den Kurden zusammen, andererseits ist der blutige Konflikt direkt an der türkischen Grenze in letzter Zeit ganz einfach in die Türkei übergeschwappt. Die Unterstützung der PYD in Syrien durch die internationale Gemeinschaft im Kampf gegen die IS-Miliz hat indirekt auch die PKK in der Türkei gestärkt. Und nachdem Erdoğan nach den Verlusten seiner Partei auf Neuwahlen drängt, scheint ihm die angespannte Atmosphäre und der Kampf gegen Terroristen auf allen Seiten gelegen zu kommen.

Zudem ist es in letzter Zeit auch in der Türkei zu Anschlägen durch den IS gekommen; zwar nicht auf türkische Institutionen, aber auf Kurden, etwa in Diyarbakır während des Wahlkampfs, und jüngst in Suruç auf kurdische Jugendliche. Darum wird der IS nun auch in der Türkei als Gefahr wahrgenommen. Das Einscheren in die US-geführte Allianz gegen den IS beschwichtigt auch die Kritiker, die das Vorgehen gegen die PKK monieren. Die Rhetorik, wonach von IS und PKK eine gleich große Bedrohung ausgehe, ist ja nicht neu, sondern schon seit langem von den türkischen Regierungsstellen zu hören. Die Weltöffentlichkeit sieht im IS freilich eine viel größere Gefahr, dort sieht man im IS Kopfabschneider und in der PKK eine Frontkämpferin für bestimmte Werte.

STANDARD: Was bedeutet das?

Günay: Die Türkei hat sich weitgehend vom internationalen Diskurs entfernt, was an sich schon eine Gefahr darstellt. Der mühsam erarbeitete Friedensprozess mit der PKK jedenfalls wurde von Erdoğan für politisches Kleingeld geopfert. (Florian Niederndorfer, 30.7.2015)