Würden sie einen eigenen Staat gründen, wäre der mindestens so bevölkerungsreich wie Ungarn oder Schweden. Doch sie haben keinen Staat. Und es will sie auch keiner. Schätzungsweise zehn Millionen Menschen leben weltweit ohne Staatsbürgerschaft, manche Statistiken gehen gar von 14 Millionen Staatenlosen aus.

Ihre genaue Zahl kennt man nicht, denn "das Prinzip der Staatenlosigkeit ist, dass die Menschen unsichtbar und nicht registriert sind", sagt Zahra Albarazi, die an der Universität Tilburg zu dem Thema forscht. Gemeinsam mit dem Norwegian Refugee Council (NRC) erarbeitete die Wissenschafterin ein Aktionspapier mit dem Titel "Staatenlosigkeit und Vertreibung". Immerhin jeder dritte staatenlose Mensch ist ein gewaltsam Vertriebener.

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Migranten aus Haiti warten vor den Behörden in der Dominikanischen Republik, um neue Papiere ausgestellt zu bekommen.
Foto: REUTERS/Ricardo Rojas

Aufklärung als Schlüssel

Die Auswirkungen dieser Kombination sind laut Monica Sanchez Bermudez vom NRC verheerend: "Die Aufnahmeländer haben keinen Staat, mit dem sie über die Rückführung von Flüchtlingen reden können. Die Menschen sind in einer nie endenden Vertreibung gefangen." Dabei würde die Lösung des Problems laut Albarazi so nahe liegen: "Es braucht massive Aufklärungskampagnen, um den Behörden und den Flüchtlingen klarzumachen, dass sie sich registrieren lassen müssen. Wenn sie vom UNHCR zumindest als Staatenlose registriert sind, kommt ihnen schon einmal ein Schutz zugute."

Die Gründe für Staatenlosigkeit sind vielfältig (siehe Interview unten): ethnische Diskriminierungen, sich widersprechende Gesetze von Nachfolgestaaten zerfallener Länder bis hin zu Gesetzesänderungen. Erst im September 2013 bewirkte eine Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes in der Dominikanischen Republik, dass mehr als 250.000 Menschen in die Staatenlosigkeit getrieben wurden. Davon betroffen waren vor allem Migranten aus Haiti, deren Kinder – sofern sie vor 2010 geboren waren – die Staatsbürgerschaft der Dominikanischen Republik erhalten hatten.

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In Flüchtlingslagern in Jordanien werden regelmäßig staatenlose Babys geboren.
Foto: REUTERS/Majed Jaber

Ius soli – also das Recht des Geburtsbodens war in Kraft. Das neue Gesetz erkannte rückwirkend alle Staatsbürgerschaften ab, die auf diesem Weg nach dem Jahr 1929 erlangt wurden. Mit Übergangsfristen sollte es den Haitianern allerdings möglich gemacht werden, ihre Papiere in Ordnung zu bringen. Bis Ende Juni war dazu Zeit. Lange Wartezeiten, behördliche Willkür und fehlende Unterlagen zwangen jedoch Tausende zurück über die Grenze – wo sie oft wiederum nicht registriert und somit "unsichtbar" wurden.

Keine Staatsbürgerschaft von der Mutter

In Jordanien werden in den Lagern der syrischen Flüchtlinge täglich staatenlose Babys geboren. Die Mütter können laut jordanischem und syrischem Recht ihre Staatsbürgerschaft in den meisten Fällen nicht weitergeben, die Väter sind oft im Krieg gefallen, eingesperrt oder auf dem Weg nach Europa. Somit bleibt den neugeborenen Syrern der Zugang zu Dokumenten, Bildung und anderen grundlegenden Rechten verwehrt. Weltweit wird alle zehn Minuten ein staatenloser Mensch geboren.

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In Burma wird die Volksgruppe der Rohingya diskriminiert und besitzt keine Staatsbürgerschaft. Den Hass auf die angeblichen "Eindringlinge" tragen Burmesen auch auf die Straße.
Foto: REUTERS/Aubrey Belford

Als Staatenloser wurde Suphi Shmuel nicht geboren, sondern als Assyrer in der Türkei. Der heute 39-Jährige engagierte sich schon früh für die Rechte der Assyrer und Aramäer, wie er dem STANDARD erzählt. Sein Engagement wurde ihm zum Verhängnis, als er den Militärdienst verweigerte. Die Behörden entzogen ihm die Staatsbürgerschaft.

"Ohne die finanzielle Unterstützung meiner Eltern hätte ich nicht überleben können", erinnert er sich. Was ihm blieb, war die Flucht nach Österreich, wo er seitdem mit einem Fremdenpass, aber unter dem Schutz der Staatenlosenkonvention lebt, die ihn etwa vor Diskriminierung bei Behördenwegen schützt. "In Österreich habe ich wenige Probleme – ich kann das Land zwar verlassen, darf aber nicht in die Türkei reisen. Meine Eltern habe ich seit Jahren nicht gesehen", erzählt Shmuel.

Dass Staatenlosigkeit beseitigt werden kann, zeigte die Einigung zwischen Indien und Bangladesch im Juni über eine Grenzregion. Mehr als 50.000 Menschen bekamen die Möglichkeit, sich für eine der beiden Staatsbürgerschaften zu entscheiden und so ein fundamentales Menschenrecht zu erhalten. (Bianca Blei, 30.7.2015)

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Ein Angehöriger der Rohingya hält ein Warteticket, um sich einen temporären Ausweis durch das UNHCR ausstellen zu lassen.
Foto: REUTERS/Samsul Said/Files
Christoph Pinter (43) leitet seit Oktober 2011 das UNHCR-Büro in Wien. Davor war der Jurist im EU-Büro der UN-Organisation tätig.
Foto: Wolfgang Voglhuber

"Jede Polizeikontrolle kann zur Tortur werden"

Christoph Pinter, Leiter des UNHCR-Büros in Wien, über das ambitionierte Ziel, jedem Menschen bis 2024 eine Staatsbürgerschaft zu geben.

STANDARD: In den Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) scheinen nicht alle Staatenlosen auf. Warum ist das so?

Pinter: Sobald ein staatenloser Mensch einen offiziellen Flüchtlingsstatus bekommt, fällt er aus der Staatenlosenstatistik heraus. Damit wollen wir Doppelzählungen vermeiden. Außerdem wird von uns der Flüchtlingsschutz höher eingeschätzt als der von Staatenlosen. Flüchtlinge haben mehr Rechte.

STANDARD: Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen Staatenlosen und Flüchtlingen?

Pinter: Diesen Konnex kann es geben. Es ist aber nicht jeder Flüchtling automatisch ein staatenloser Mensch – und umgekehrt. Aber natürlich können auch Staatenlose verfolgt sein und deshalb Flüchtlingsschutz benötigen. Wenn sie keinen Flüchtlingsschutz benötigen und es zu einem negativen Asylbescheid kommt, ergeben sich neue Probleme: Wohin kann man solche Menschen abschieben, wenn sich kein Land der Erde für sie zuständig fühlt? Dann kann es passieren, dass die Staatenlosen in dem Land, wo sie den Antrag gestellt haben, hängen bleiben und keine Aufenthaltsberechtigung besitzen.

STANDARD: Welche Probleme haben Menschen ohne Staatsbürgerschaft noch?

Pinter: Ich kann dabei vor allem über die europäische Situation sprechen. Da hängen ganz viele Rechte an der Staatsbürgerschaft. So kann jede Polizeikontrolle zur Tortur werden, wenn man sich nicht ausweisen kann. Man hat oft Probleme, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem ist es ungleich schwieriger, ohne Staatsbürgerschaft zu heiraten. Die Probleme betreffen also ganz alltägliche Dinge.

Aufklärungskampagne des UNHCR zum Thema Staatenlosigkeit.
United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)

STANDARD: Welche Gründe gibt es, dass ein Mensch staatenlos wird?

Pinter: Wir unterscheiden dabei zwei Ursachengruppen. Zum einen die technischen und zum anderen die diskriminierenden Ursachen. Bei erster Gruppe zerfällt etwa ein Staat, wie damals die Sowjetunion, und manche Menschen erhalten keine Staatsbürgerschaft von einem der Nachfolgeländer, weil sich etwa Gesetze widersprechen.

STANDARD: Was wären diskriminierende Ursachen?

Pinter: Darunter fallen Diskriminierungen von Volksgruppen. Das ist zum Beispiel der Fall bei den Rohingya in Myanmar (Burma, Anm.), die keine Chance auf eine Staatsbürgerschaft bekommen. Ein weiterer Grund kann sein, dass Frauen ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben können und Probleme haben, Neugeborene zu registrieren.

STANDARD: Das UNHCR hat sich zum Ziel gesetzt, Staatenlosigkeit bis zum Jahr 2024 auszulöschen. Realistische Vorgabe oder absichtlich überambitioniert gestecktes Ziel?

Pinter: Wir wollen auf das Thema aufmerksam machen. Dabei soll aber sicher nicht nur Stimmung gemacht werden, sondern dahinter steckt harte Arbeit aller Beteiligten. Es ist schwer abschätzbar, ob dieses Ziel erreicht werden kann – die Hoffnung ist allerdings da. Auch die Zivilgesellschaft hilft mit, damit dieses Ziel nicht überambitioniert ist. Es gibt bereits ein europaweites Netzwerk aus Hilfsorganisationen, das sich um dieses Thema kümmert. (INTERVIEW: Bianca Blei, 30.7.2015)