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Nahe Calais versuchen französische Polizisten Flüchtlinge daran zu hindern, in Richtung Zuggleise zu gehen.

Foto: REUTERS / Pascal Rossignol

Ein Auto der Sicherheitsfirma des Eurotunnels hinter einigen Migranten in Calais.

Es war der neunte Todesfall seit Anfang Juni. Ein Flüchtling aus dem Sudan, männlich, zwischen 25 und 30 Jahre alt, kam ums Leben, als er durch den Eurotunnel nach Großbritannien gelangen wollte und von einem Lastwagen überfahren wurde. Wie er hatten es in der Nacht zum Mittwoch rund 1.500 Flüchtlinge versucht, durch den Tunnel ins Königreich zu gelangen. Mindestens 148 von ihnen gelang es: In Folkestone angekommen, beantragten sie Asyl. Andere, vermuten die Behörden, sind nach ihrer Ankunft in Großbritannien untergetaucht.

In der Nacht auf Donnerstag versuchten weitere hundert bis 150 Flüchtlinge an der französischen Polizei und anderen Ordnungskräften vorbeizukommen, wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die Flüchtlinge blockierten etwa eine Stunde lang einen der Eurotunnel-Ausgänge.

5.000 wartenden Menschen

Die Situation im nordfranzösischen Fährhafen Calais und im nahegelegenen Coquelles, wo der Eurotunnel beginnt, hat sich weiter verschärft. Waren es im Jänner nur rund 600 Flüchtlinge, so sind es mittlerweile bis zu 5.000 Menschen, die auf eine Gelegenheit warten, nach Großbritannien zu kommen. Sie versuchen, Absperrzäune zu überwinden, um in Lastwagen einzubrechen oder auf fahrende Züge aufzuspringen. Insgesamt hat es heuer laut Eurotunnel-Betreiber bereits 37.000 Versuche gegeben, auf die andere Seite des Ärmelkanals zu gelangen.

Das Risiko für Leib und Leben ist groß, aber der Preis, im Königreich Asyl beantragen zu dürfen, scheint es vielen Flüchtlingen wert. In den letzten Tagen und Nächten wurde der Ansturm immer größer. In der Nacht zum Dienstag führte die französische Polizei rund 2.000 Eindringlinge vom Gelände des Eurotunnels ab – und ließ sie draußen wieder frei. Kein Wunder, dass in der Nacht darauf die Flüchtlinge erneut ihr Glück versuchten.

Neues Vorgehen vereinbart

Mit dem Katz-und-Maus-Spiel soll demnächst aber Schluss sein, wie die britische Innenministerin Theresa May am Mittwoch verkündete. Sie hatte in Gesprächen mit ihrem französischen Amtskollegen Bernard Cazeneuve eine Änderung der bisherigen Praxis erreicht. In Zukunft sollen nicht mehr alle aufgegriffenen Flüchtlinge wieder laufengelassen, sondern einige von ihnen in ihre Heimat, hauptsächlich westafrikanische Länder, abgeschoben werden. "Das ist ein bedeutender Schritt vorwärts", sagte May, weil es deutlich mache, dass die Leute kein Leben in Großbritannien erwarten können, sondern wieder zurückgeschickt werden.

Darüber hinaus kündigte die Innenministerin weitere Maßnahmen an. Umgerechnet 9,9 Millionen Euro will die britische Regierung in einen zwei Kilometer langen Hochsicherheitszaun investieren, der die Anlage in Coquelles schützen soll. Britische Polizisten und Undercoveragenten sollen mit französischen Sicherheitskräften vor Ort zusammenarbeiten, um Schlepperbanden das Handwerk zu legen.

Cameron: Kein "sicherer Hafen"

Großbritanniens Premierminister David Cameron will angesichts der Flüchtlingskrise in Calais die Einwanderungsgesetze seines Landes weiter verschärfen. "Offen gesagt, wir müssen mehr tun", sagte Cameron am Donnerstag während eines Besuchs in Vietnam. "Wir verabschieden schon Gesetze, um mehr zu tun, um Großbritannien zu einem Ort zu machen, wo illegale Migranten weniger leicht bleiben können."

Großbritannien werde illegal ins Land gekommene Migranten ausweisen, "damit Leute wissen, dass dies kein sicherer Hafen ist", sagte Cameron der BBC. Schon jetzt täten die Behörden alles, um Reisenden am Ärmelkanal einen "gefahrlosen und sicheren Urlaub" zu ermöglichen.

Ukip fordert Einsatz der Armee

Der Flüchtlingsansturm, der immer wieder zu Schließungen des Eurotunnels und zu Störungen beim Fährbetrieb führt, hat auf der britischen Seite ernste Verkehrsbeeinträchtigungen produziert. Weite Teile der Autobahn M20 wurden geschlossen und zu einem Riesenparkplatz für Lkws verwandelt. Der britische Verband der Speditionsunternehmer schätzt, dass pro Tag ein Schaden von mehr als einer Million Euro entsteht. Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen Partei Ukip, rief dazu auf, die Armee einzusetzen, um Lkws nach illegalen Einwanderern zu durchsuchen. (Jochen Wittmann aus London, 29.7.2015)