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Fünf Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt suchen Einsatzkräfte noch immer nach vermissten Todesopfern des 11. März 2011.

Foto: EPA/KIMIMASA MAYAMA

Die japanischen Behörden hatten sich verschätzt. Erst Wochen nach dem Super-GAU im Atomkraftwerk am 11. März 2011 war klar, dass die atomare Strahlung auch Städte und Dörfer in einer Entfernung von 30 Kilometern unbewohnbar gemacht hatte. Insgesamt 120.000 Menschen mussten vor der Strahlengefahr in Sicherheit gebracht werden. Dreieinhalb Jahre später droht sich Japan wieder zu verschätzen.

Bis 2017 soll die Evakuierungsanordnung für die meisten betroffenen Gebiete aufgehoben werden. Zwar seien die Wohnorte noch nicht völlig strahlungsfrei, aber wieder bewohnbar, heißt es von den Behörden. Rund 5.400 Menschen wären davon betroffen. Jedenfalls sollen in zwei Jahren die Kompensationszahlungen an diese Gruppe eingestellt werden – Japan will sparen.

Reduziertes Leben

Bei einer Pressekonferenz im Foreign Correspondents Club of Japan beschrieben drei Greenpeace-Vertreter vor allem die Situation in der Stadt Iitate, die vor dreieinhalb Jahren in besonderem Maß atomar verstrahlt worden war. 6.000 Menschen lebten im großräumigen Stadtbezirk primär von der Landwirtschaft. Tausende Arbeiter trugen in den bewohnten Arealen verstrahlten Boden ab und schütteten neuen Boden auf, aber die weitere Umgebung der Stadt mit ihren bewaldeten Bergen ist nicht zu dekontaminieren und wird über lange Zeit verstrahlt bleiben.

Den Bewohnern – so sie zurückkehren – steht ein sehr reduziertes Leben bevor. Sie sollten sich nicht zu lange Zeit außerhalb der Häuser aufhalten, und Kinder sollten nach Möglichkeit nicht draußen spielen. Landwirtschaft wird in Iitate, in der die Wagyu-Rinderzucht eine große Rolle gespielt hat, nicht mehr möglich sein. Waldpilze, die in den umliegenden Wäldern vor der AKW-Havarie gesammelt und verkauft wurden, sind hoch kontaminiert.

Keine Infrastruktur mehr

Die Rückkehrer werden aber nicht nur in Unsicherheit über ihr gesundheitliches Risiko leben. Sie werden in einer Stadt leben, deren Infrastruktur verschwunden ist. Geschäfte, Banken und Wirtshäuser gibt es nicht mehr. Das Gemeinschaftsgefühl in den Kommunen aber kann sich nicht wieder entwickeln, wenn die gemeinsamen Treffpunkte fehlen.

Besonders ältere Menschen sind auf eine funktionierende lokale Infrastruktur mit kurzen Wegen ins Lebensmittelgeschäft und zum Arzt angewiesen. Sie sind es umso mehr, weil ihre Kinder mit ihren Familien oft längst in einer anderen Stadt ohne atomare Strahlung eine Wohnung und Arbeit gefunden haben.

Getrennte Familien

Die Familie der 77-jährigen Frau Kanno zum Beispiel wohnt seit der Verstrahlung Iitates an mehreren Orten. Die alte Frau wohnt allein in einem der vielen kleinen Behelfshäuser. Der Sohn lebt mit seiner Familie nahe Tokio, er und seine Frau wollen mit den Kindern nicht mehr zurückkehren. Weil die noch immer erhöhte radioaktive Strahlung in großen Teilen der Präfektur Fukushima für Kinder ein erhöhtes Krebsrisiko bedeutet, besuchen sie nicht einmal mehr die Großmutter.

Die Tochter von Frau Kanno und ihre drei Kinder leben jetzt in der Nachbarprovinz Niigata – deren Mann, der als Lehrer in Fukushima arbeitet, sieht seine Familie nur am Wochenende. Frau Kanno litt nach der Atomkatastrophe an Depressionen und kann noch immer nur mithilfe von Tabletten schlafen.

Einer Umfrage zufolge leben 48,9 Prozent der Familien örtlich getrennt. Vor der AKW-Katastrophe war in der Präfektur Fukushima der Drei-Generationen-Haushalt die Regel. Wenn laut Befragungen in 67,5 Prozent der Haushalte Familienmitglieder psychische Auffälligkeiten wie Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit entwickelt haben, ist das kein Wunder. Die Rückkehr in die gewohnte Umgebung wird daher keine Heimkehr sein, sondern wird wegen der Restriktionen aufgrund atomarer Strahlung neuen Stress und Unsicherheit bringen. (Siegfried Knittel aus Tokio, 27.7.2015)