Wien – Seit wenigen Wochen gibt es die deutsche Fassung von "Constructive News". Autor Ulrik Haagerup, Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Dänischen Rundfunks, hat es satt, die Welt schwarz zu malen. In seinem Buch geht es um einen Ansatz, der weder in PR-Schönmalerei noch Schönwetterjournalismus gründet, sondern nach einem inspirierenden Ansatz selbst in den schlimmsten Nachrichten sucht. Um das zu illustrieren, wendet er zu guter Letzt seine Methode auf nationale und internationale Schlagzeilen an.

STANDARD: Warum haben Sie das Buch "Constructive News" geschrieben und das Thema nicht in Form einer Plattform umgesetzt, wo neben Anleitungen und Redaktionsrezepten auch Austausch und Dialog gefördert werden?

Haagerup: Da ich einen ziemlich fordernden Job habe, hatte ich die Idee, ein Buch zu schreiben; auch um zu zeigen, was die analoge Welt noch immer kann. Ein Buch ist da, um zu bleiben. Du legst es ins Regal, du kannst darin nachschlagen, es in Händen halten. In einer digitalen Welt, wo sich die Tagesordnung mit der Zeit verschiebt, glaube ich, dass eine Kombination aus Buch, Webseite und Vorträgen der richtige Weg ist, um eine Idee zu verbreiten.

Die Website constructivenews.eu soll Beispiele konstruktiver Nachrichten sammeln und dadurch Menschen inspirieren. Es sollte nicht nur ein Thema sein, worüber ich nachdenke oder das wir beim Dänischen Rundfunk anwenden. Wir versuchen mit Journalisten und Herausgebern auf der ganzen Welt ins Gespräch zu kommen, wie man die Qualität von Journalismus verbessern kann und wie wir in unserer Rolle als Nachrichtenorganisation, Journalisten und Herausgeber uns mehr um die Gesellschaft sorgen. Das ist der Grundgedanke und das Ziel.

STANDARD: Sie haben in ihrem Buch an vieles gedacht – von Rezepten für den Stammtisch bis hin zur Anwendung in der Redaktion. Gibt es inhaltliche Ergänzungen, die sie nachträglich noch gerne gemacht hätten?

Ulrik Haagerup
Foto: DR/Haagerup


Haagerup: Da gab es einen Vorfall, der während eines der vielen Vorträge, die ich gehalten habe, passiert ist. In einer Universität sprach ich vor Journalismusstudenten über all das. Dort meldete sich eine junge Frau, die gerade im zweiten Studienjahr war, zu Wort: "Ich finde es ziemlich interessant, wovon sie sprechen, aber es muss eine Lüge sein. Das ist nicht das, was wir lernen. Wir lernen, dass das Ziel von gutem Journalismus darin besteht, kritisch zu sein. So wie ich es verstehe, ist es nicht das, was sie sagen."

Ich sagte ihr, dass sie den Kerngedanken des ganzen Problems getroffen hat. Kritisch zu sein ist ein wichtiges Instrument, um das zu tun, was wir tun müssen, nämlich den Menschen die bestmögliche Version der Wahrheit zu zeigen. Kritisch zu sein war nie als Ziel des Journalismus gedacht, aber es ist ein äußerst wichtiges Mittel. Wir haben in den letzten dreißig Jahren, besonders in der westlichen Welt, so viel vermasselt und verdreht, dass viele denken, dass es das Ziel von Journalismus sein muss, kritisch zu sein.

STANDARD: Was ist für Sie das Ziel von Journalismus?

Haagerup: Das Ziel, das ich verfolge, ist Menschen klüger zu machen und über die Vorgänge in der Welt zu informieren, damit sie sich ihre eigene Meinung bilden können. In meiner Generation hatten Journalisten Angst, nicht kritisch genug zu sein, denn das war das Schlimmste, was jemand zu uns sagen konnte. Es ist immer noch das Schlimmste, was jemand zu einem Journalisten sagen kann, nämlich dass er nur das Mikrofon hält und keine kritischen Fragen stellt.

Wir waren so ängstlich, dass wir negativ und kritisch wurden und eine Geschichte nur über die Aspekte erzählt haben, die nicht funktionieren. Das ist einer der Gründe, warum wir an einem Punkt sind, wo Menschen die Nachrichten, die wir machen, satt haben. Wir sind nicht bedeutungsvoll genug in dem, was wir tun, weil wir Menschen in die Irre führen mit den Filtern, die wir vor unseren Augen haben. Wir liefern den Menschen nicht die bestmögliche Version der Wahrheit. Wir geben ihnen das, wovon wir glauben, dass es uns gut aussehen lässt in den Augen unserer Kollegen.

STANDARD: Im Buch kritisieren Sie, dass viele Journalisten noch weniger Verantwortung für ihre Arbeit übernehmen als Politiker. Woran liegt das? An der persönlichen Ideologie, Ausbildung oder dem Tagesgeschäft?

Haagerup: In meinem Buch habe ich eine kurze Analyse gewagt und Gründe aufgezählt, warum es so weit gekommen ist. Einer davon ist die Geschäftsidee, die man mit der amerikanischen Auffassung "if it bleeds it leads" übersetzen könnte. Der Boulevard wurde in den späten 60er- und 70er-Jahren stark. Plötzlich gab es einen Weg, um als erfolgreiches Medium wahrgenommen zu werden, und eine Möglichkeit, wie man eine gedruckte Zeitung mit einer hohen Auflage oder einen lokalen Fernsehsender betreiben konnte. Alles musste dramatisch sein.

Nach den Bürgerrechtsbewegungen in den späten 60er-Jahren sind viele engagierte Menschen in den Journalismus gegangen – nicht um Menschen klüger zu machen, sondern in ihrer Rolle als Aktivisten. Sie stellten Themen auf die nationale Tagesordnung, von denen sie glaubten, dass sie geändert werden müssen. Ein anderer Grund sind die Helden des Journalismus, die mit der Watergate-Affäre und den Pentagon-Papieren zeigten, dass man politischer Macht nicht trauen und wie mächtig kritische Berichterstattung sein kann. Die Kombination von all dem führt zu dem Gedanken, dass eine gute Geschichte eine schlechte Geschichte sein muss.

STANDARD: Eine gute Geschichte klingt nach Schönwetterjournalismus.

Ulrik Haagerup
Foto: DR/Haagerup


Haagerup: Ich spreche nicht über nette oder positive Geschichten, sondern über konstruktive, inspirierende, und über die Veränderung der Rolle der Journalisten, sodass wir nicht nur darauf schauen, was gestern passiert ist oder was jetzt passiert, so wie wir es seit 25 Jahren machen, als CNN das "Breaking news"-Konzept erfand und damit einen Paradigmenwechsel auslöste. Wovon ich spreche, ist Journalismus, der Geschichten von morgen erzählt. Es ist kein "Wie kannst du deine Marmelade einkochen"-Journalismus, der sich gut in einem Frauenmagazin macht.

STANDARD: Nachrichten berichten darüber, was jetzt passiert, liefern oft nur eine Momentaufnahme und erzählen Geschichten selten zu Ende – auch wenn sie gut ausgehen. Wäre nicht gerade das notwendig?

Haagerup: Da haben Sie recht. Wir haben die falsche Annahme, dass guter Journalismus sehr eingegrenzt sein muss. Wir nutzen nur ein Auge, um all das zu schreiben, was eine gute Geschichte ausmacht und alle dramatischen Geschichten umfasst – Opfer, Gauner und Konflikte. So filtern wir die Welt. Aber indem wir das machen, ignorieren wir alles, worauf das Auge nicht schauen will. Was wir produzieren, mag nicht falsch sein, die Zahlen sind auch richtig, aber ist das Bild richtig?

Erst vor wenigen Tagen wurden neue Zahlen zur Armut in der Welt publiziert. Die Konsequenz davon ist, dass die Öffentlichkeit und Politik ein falsches Bild vom Zustand der Welt bekommt. Wir vergessen das Gesamtbild. 1994 galten 3,1 Milliarden Menschen in 64 Ländern der Welt als arm. 2014 waren es 630 Millionen in 31 Ländern mit geringem Einkommen. Das ist eine massive Reduktion der Armut in der Welt. Wissen die Menschen, dass die Welt sich so stark verändert hat für die große Mehrheit der Menschen? Ich glaube nicht. Umfragen zeigen, dass sie eine falsche Vorstellung von der Welt haben. Woher können sie das auch wissen? Sie bekommen ihre Information aus den Medien.

STANDARD: Und welche Auswirkung hat das falsche Bild auf die Politik?

Haagerup: Die politische Debatte dreht sich oft darum, worauf sich Medien konzentrieren. Helmut Schmidt formulierte das so: "In einer demokratischen Welt ist es das einzige Ziel von politischen Führern, wiedergewählt zu werden." Deswegen heuern Politiker PR-Männer an, um in die Nachrichten zu kommen. Wenn wir uns auf Gauner und Konflikte konzentrieren, dann wird auch die politische Debatte dorthin gehen. Wir reden über die Vergangenheit und suchen nach Schuldigen, anstatt über eine Verbesserung der Lage zu sprechen.

STANDARD: Sie schreiben, dass sich Nachrichtenunternehmen mit einem konstruktivem Ansatz hervorheben können. Wie kann das in dem schnellen Nachrichtengeschäft trotz mangelnder Ressourcen in den Redaktionen funktionieren?

Haagerup: Ich glaube, dass wir das schaffen können, aber es ist wichtig, die Probleme nicht zu ignorieren und ein falsches Bild der Welt zu zeichnen, was eine Art nordkoreanischer Journalismus wäre. Ich spreche von einem Journalismus, der seine Rolle ernst nimmt. Natürlich sollten wir Probleme auf die lokale wöchentliche Tagesordnung stellen, aber wir sollten auch den nächsten Schritt machen. Nachdem wir dokumentiert haben, dass etwas ein Problem und demnach wichtig für die Gesellschaft ist, sollten wir eine Diskussion ermöglichen, um das Problem lösen zu können. Diese Art von Journalismus verbessert die Qualität der öffentlichen Diskussion, statt ein überzeichnetes Bild zu liefern und die Menschen im Dunklen teilnahmslos zurückzulassen.

STANDARD: Erweitert sich dadurch der Aufgabenbereich der Journalisten und birgt es nicht die Gefahr, politisch zu werden?

Haagerup: Wir sollten diese Linie nicht überschreiten und entscheiden, was die beste Lösung ist, denn das ist der Aufgabe von Politikern. Wenn wir für keine politische Partei arbeiten, keine politische Ideologie haben, sondern für unabhängige Medien arbeiten, müssen wir vorsichtig sein nicht das zu machen, was beispielsweise in Frankreich passiert ist oder in Schweden. In Frankreich beschlossen die traditionellen Medien, da sie die Politik der Front National nicht mochten, sie zu ignorieren und nicht auf ihre Reden zu verweisen. Dasselbe passierte in Schweden mit den Schwedischen Demokraten.

Wir sollten vorsichtig sein, nicht Politiker zu spielen und zu sagen, welche Parteien wir mögen und welche nicht. Wenn wir das machen wie es in Frankreich und Schweden der Fall war, dann würde eine Menge Menschen aus gutem Grund aufhören an unseren Journalismus zu glauben und uns vorwerfen, dass wir nicht unabhängig sind. Etwas wegzulassen, um ein bestimmtes Programm zu pushen, ist nicht unser Job. Es ist eine völlig legitime politische Aussage, dass wir alle österreichischen Grenzen für alle Menschen dieser Welt öffnen wollen, genauso aber auch, dass wir alle Grenzen schließen wollen. Als Journalist kann man das gut oder schlecht finden, aber es ist nicht unsere Aufgabe zu entscheiden, ob das eine gute Politik ist oder nicht, denn sonst werden wir von Journalisten zu Politikern oder Aktivisten und stellen uns und unserere Profession als wenig vertrauenswürdig dar.

STANDARD: Helmut Schmidt schreibt in dem Vorwort der deutschen Ausgabe, dass Twitter – auch wegen seiner Reduktion auf 140 Buchstaben – zu Trivialität führt. Viele Medien gehen über soziale Medien zum Leser. Wie verändert das den Journalismus? Sollte es so etwas wie einen "Gefällt mir nicht"-Button auf Facebook geben?

Haagerup: (lacht). Manchmal wäre es gut, wenn es einen Weg gäbe zu sagen, dass etwas einfach zu dumm ist. Moderne Nachrichtenmedien müssen neue Vertriebswege verwenden, um Menschen zu erreichen. Wir sind im Geschäft der Geschichtenerzähler, dem zweitältesten Beruf der Welt. Prostitution war vermutlich der erste. Wenn der Geschichtenerzähler einfach auf seinem Stein inmitten des Feldes sitzen bleibt, dieselbe Geschichten auf dieselbe Art an demselben Ort erzählt, wird sein Publikum ihn bald verlassen. Ein guter Geschichtenerzähler hat es immer geschafft zu seinem Publikum.

Natürlich sollten wir soziale Medien verwenden. Die Gefahr davon ist, dass wir einen Nachrichtenmarkt erzeugen, wo Menschen nur die Nachrichten bekommen, die sie interessieren, also Themen, von denen sie bereits Ahnung haben oder Themen von ihren engsten Freunden, die eine ähnliche Weltansicht haben – anstelle von eigenständigen Nachrichtenquellen. Das Problem daran und das Großartige an einem Nachrichtenmedium, sei es Print oder TV, ist, dass du etwas liest oder siehst und plötzlich mit einem neuen Thema konfrontiert bist, von dem du noch nicht wusstest, dass es dich auch interessieren könnte. Du erweiterst deinen Horizont und wirst klüger. Aber wenn du nur Geschichten bekommst, nach denen du bereits gefragt hast, wirst du nie herausgefordert.

STANDARD: Nachrichtenorganisationen wie die BBC gehen genau in diese Richtung und lassen Leser ihre eigenen Nachrichten zusammenstellen.

Haagerup: Das stimmt, und als öffentlicher Dienstleister diskutieren wir das Thema momentan auch. Es wäre okay, wenn Leser keine Sportnachrichten wollen. Es ist gut, dass man diese Sektion mit der neuen digitalen Technologie abwählen kann, aber das Problem daran ist, wenn man keine Geschichten über Menschen lesen will, die anders sind als einer selbst, was passiert dann mit der Gesellschaft?

STANDARD: Sie wird ignorant.

Haagerup: Ja, man bekommt eine Gesellschaft, in der Menschen mehr und mehr ignorant werden. Eines der großen Ziele von nationalen Nachrichtenmedien ist es, Geschichten voneinander zu erzählen. Wenn wir nichts über Menschen wissen, die in einem anderen Teil der Erde leben oder einen anderen sozialen Hintergrund haben, fühlen wir uns nicht verbunden mit ihnen. Dann haben wir keine globale Gesellschaft, keine nationale Gesellschaft und vielleicht nicht einmal einen nationalen Staat. Das ist eine der großen Gefahren für das Nachrichtenwesen und die Demokratie dieser Tage.

STANDARD: Gab es kürzlich eine Geschichte, bei der es Ihnen besonders schwerfiel, einen konstruktiven Ansatz zu finden? Sind aber nicht gerade das die Geschichten, die einen haben müssten?

Haagerup: Eine sehr gute Frage. Nimmt man nun den Terroranschlag in Kopenhagen Anfang des Jahres als Beispiel. Als Nachrichtenmedium ist es die erste Aufgabe, die Geschichte korrekt zu melden und alle Fakten zu erzählen. Erst am dritten oder vierten Tag können wir anfangen über konstruktive Ansätze zu sprechen. Wie kann ein Mann, der in Dänemark aufgewachsen ist und hier ausgebildet wurde, radikalisiert werden und diese Idee haben? Warum hasst er Juden und warum wollte er einen Karikaturisten töten? Wie können wir das in Zukunft verhindern? Diese Diskussion ist extrem wichtig.

Wir sollten uns daran beteiligen und Beispiele finden, wie andere an dieses Problem herangegangen sind und den Vorfall in Relation setzen: Wie hoch ist der Anteil der Moslems, die in Dänemark radikalisiert wurden? Wie groß ist das Problem? Gibt es unterschiedliche Grade, in denen ein Moslem seinen religiösen Glauben praktiziert? Natürlich gibt es die und diese Menschen sollten wir genauso in die Nachrichten bringen.

Eine Woche nach dem Terroranschlag haben wir eine Geschichte über ein 17-jähriges Mädchen mit muslimischer Herkunft gebracht. Sie verfasste ein Gedicht darüber, wie es sich nach diesem Terroranschlag anfühlt eine Muslimin zu sein. Sie schrieb von ihrer Angst, nun anders behandelt zu werden, weil sie ein Kopftuch trägt und Menschen glauben könnten, sie unterstützte den Terroristen, der, wie sie es sagt, "fälschlicherweise glaubte, es sei in Ordnung, im Namen ihres Propheten zu töten". Diese Geschichte hatte eine große Resonanz auf Twitter. Sie stand stellvertretend für die Meinung vieler Muslime in dem Land und war deswegen sehr wichtig.

STANDARD: Sie schreiben, dass kritische, negative Nachrichten die Rundfunkgebühr rechtfertigen. Wie kann man dieses Geschäftsmodell verändern?

Ulrik Haagerup
Foto: DR/Haagerup


Haagerup: Das ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich wollte Beispiele finden, die illustrieren, dass Constructive News nicht nur ein anständiger Ansatz ist, sondern auch ein gutes Geschäftsmodell. Wenn ich nicht mit dem Argument gekommen wäre, wäre die Missgunst im Nachrichtengeschäft groß gewesen, aber es hat viele Nachrichtenmedien inspiriert. Du kannst kritisch und konstruktiv in demselben Artikel oder Nachrichtenprogramm sein, das ist kein Widerspruch.

So hat zum Beispiel die "Huffington Post", die mit der "Huff Post Good News" begonnen hat, diesen Ansatz auf alle ihre Sektionen ausgedehnt. Viele Medienhäuser haben realisiert, dass es ein ziemlich gutes Geschäftsmodell ist und auch Werber diese Geschichten den traditionellen, konfliktbeladenen vorziehen. "Die Zeit" ist auch ein gutes Beispiel. Sie will mit ihren Geschichten inspirieren und Diskussionen anregen und nicht Geschichten bringen, die Menschen Angst macht. In einer Zeit, wo viele Printpublikationen den Bach hinunterlaufen, steigt ihre Zahlen. Ich finde mehr und mehr Beispiele dafür, dass dieser Ansatz wirklich funktioniert. Menschen finden diese Geschichten bedeutungsvoller, sie wollen mehr Zeit mit ihnen verbringen und sie auf sozialen Medien teilen.

STANDARD: In Österreich ist der Boulevard sehr stark. Glauben Sie, dass das Konzept von Constructive News auch hier funktionieren kann?

Haagerup: Viele der Boulevardmedien sind daran nicht interessiert, da sie einen anderen Ansatz, eine andere Weltansicht haben, in der Politiker immer korrupt sind und die Welt nur schwarz oder weiß. Es gibt einige Boulevardmedien in Ihrem Land, wo ich nicht daran glaube, dass sie sich ändern können, aber es ist auch das Nachrichtenwesen an sich, das mit großen Problemen konfrontiert ist. Die Auflagen sinken, weil das bisherige Modell einfach nicht mehr funktioniert.

STANDARD: Bleiben wir in Österreich. Die deutschsprachige Version von "Constructive News" war zeitweise vergriffen, ihre Vorträge in Österreich gut besucht. Welche österreichischen Medien zeigten dort Interesse an ihrem Ansatz?

Haagerup: Ich war Ende September letzten Jahres beim ORF eingeladen, um zwei Workshops für dessen Mitarbeiter zu halten. Ich wurde von diversen Nachrichtenmedien interviewt. Die Kuriosität daran waren die Reaktionen: "Was zum Teufel redet dieser Kerl? Ist er verrückt?" Aber ich sehe zunehmend österreichische Besucher in Dänemark, die zum Dänischen Rundfunk kommen, um zu sehen, was wir hier machen oder die an der Meisterklasse der europäischen Rundfunkunion, mit der wir kooperieren, teilnehmen. Viele Journalisten aus Europa besuchen diesen Kurs, gehen in ihr Heimatland zurück und setzen die Methoden in ihren eigenen Medien ein.

STANDARD: Was sind die Inhalte der Meisterklasse?

Haagerup: Im praktischen Teil der Meisterklasse, am zweiten Tag, nehmen wir tagesaktuelle Nachrichten und versuchen konstruktive Ansätze zu finden. Am Anfang fällt das allen sehr schwer, aber später kommen sie mit großartigen Ideen, die sie liebend gerne drucken und veröffentlichen wollen.

STANDARD: Es zeigt, dass viele Nachrichtenunternehmen eine Veränderung wollen.

Haagerup: Wenn du mit einem Journalisten, gleich von welchen Medium, off the record sprichst, merkst du, dass die meisten extrem frustriert sind – über die Situation der Nachrichtenmedien, des Journalismus, aber auch darüber, wie sie ihr eigenes Talent einsetzen müssen. Viele Journalisten verlassen das Nachrichtengeschäft, da sie das Gefühl haben, sie müssen Nachrichten auf eine Art erzählen, die sie selbst nicht lesen würden – zum Beispiel im Urlaub. Sie können ihre eigenen Kinder nicht dazu bringen, die Zeitung zu lesen. Und sie wissen, dass einer der Gründe dafür ist, dass Menschen es satt haben Nachrichten zu lesen, die sie deprimieren.

Gleichzeitig wissen sie nicht, wie sie das ändern können, denn die ganze Kultur des Journalismus und der Nachrichtenredaktionen besagt, dass eine gute Geschichte eine schlechte Geschichte sein muss. Eine Geschichte, die nicht kritisch ist, sich nicht auf Gauner fokussiert, auf Opfer, Drama und Konflikt, ist nichts, was wir als guten Journalismus bezeichnen. Ich treffe auf diese Frustration in mehr und mehr Nachrichtenredaktionen und habe sie auch selbst erlebt. Wenn wir in den Spiegel blicken und unser Selbstbild nicht mehr mögen, müssen wir uns ändern. Der erste Schritt ist, uns damit auseinanderzusetzen, dann darüber zu reden, zu experimentieren, wie wir für die Gesellschaft wieder von Bedeutung sein können und den Journalismus dorthin zurückbringen, wo er sein sollte, wo er einen positiven Nutzen für die Gesellschaft hat.

STANDARD: Nun würde ich gerne ihren Ansatz auf Nachrichten anwenden. Ein Beispiel: Immer mehr Frauen ziehen in den Jihad. Wie könnte ein konstruktiver Ansatz bei dieser Geschichte aussehen?

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Archivbild aus 2009: Weibliche Jihad-Kämpferinnen im Training im Gaza-Streifen.
Foto: Picturedesk.com / AP / Tara Todras-Whitehill


Haagerup: Zuerst müssen wir melden, dass es passiert, wie groß das Problem ist und wie viele junge Menschen nach Syrien gehen und dem IS beitreten. Nachdem wir das dokumentiert haben, müssen wir herausfinden, wie wir es lösen können und zum Beispiel zeigen, wie das Le

ben dort ist. Finden wir jemanden, der dort war und fliehen konnte? Welchen Traum und welche Vorstellung hatte sie, und welche Realität fand sie vor? War es so großartig, wie sie es erwartet hat? Wie kam sie raus und was würde sie der Gesellschaft empfehlen, um zu verhindern, dass andere ihrem Beispiel folgen? Man sucht Beispiele und untersucht die Diskussionen in anderen Ländern, das wäre ein Anfang. Das Problem gibt es in Österreich, Dänemark, Schweden, Großbritannien – überall. Welche Ideen gab es dazu, welche Programme wurden in Schulen, Moscheen eingesetzt, was machen Organisationen dagegen?

STANDARD: Ein anderes Beispiel: Der Germanwings-Flugzeugabsturz mit der Schlagzeile "Kopilot wollte das Flugzeug zerstören".

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Wrackteil der zum Absturz gebrachten Germanwings-Maschine.
Foto: APA/EPA/SEBASTIEN NOGIER


Haagerup: In den ersten Tagen geht es zunächst einmal darum herauszufinden, was passiert ist und welche Konsequenzen das hat. Aber die wirklich wichtige Geschichte ist herauszufinden, was die Organisation verabsäumt hat, wenn einer ihrer Kopiloten solche Gedanken haben und mit seinem Selbstmord so viele Menschen in den Tod reißen kann – ohne dass Kollegen oder das Unternehmen das wissen konnten. Gab es Warnzeichen, die sie hätten sehen können, auf die andere Unternehmen in Zukunft achten sollten? Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die wichtigste Story das Problem ist.

Das wirklich Wichtige und worüber sich der Journalismus von morgen dreht, ist, wie wir dafür sorgen können, dass das das niemals wieder passiert. Wie können wir uns als Gesellschaft auf Basis von etwas so Schrecklichem verbessern? Wie können wir die politische Debatte ermöglichen und eine Inspiration für andere Unternehmen sein? Was wird in anderen Ländern gemacht – gibt es andere Tests, die Piloten durchlaufen?

Wir sind so fixiert darauf, alles live zu berichten – von dem Dorf zu berichten, wo der Kopilot aufgewachsen ist, und damit Menschen in die Nachrichten zu bringen, während sich die Geschichte langsam aufrollt. Das ist das, was Nachrichtenjournalismus tun kann, und darauf fokussieren wir uns schon die letzten zwanzig Jahre. Als nächstes suchen wir einen Schuldigen, einen Verantwortlichen, natürlich sollten wir das auch tun, aber wir sollten es auch als Beispiel sehen und davon lernen, wie wir unsere Gesellschaft verbessern können.

STANDARD: Wollen Sie mit konstruktiven Nachrichten die Welt retten?

Haagerup: Es wäre großartig, aber wir sollten das der Religion und Politik überlassen. Aber ich finde, dass der Journalismus fundamental für die Politik ist. Die Probleme in der Demokratie sind nicht allein das Problem von Politikern. Wir können Politiker bitten, sich besser zu verhalten und Politiker können uns bitten, uns besser zu verhalten, und niemand wird auf den anderen hören. Wir sollten uns in unserem Geschäft darum bemühen und eine ernsthafte Diskussion darüber führen, wie wir wieder bedeutungsvoll und vertrauensvoll für Menschen sein können.

Wenn man Menschen fragt, merkt man, dass sie unserer Profession nicht mehr vertrauen. Uns wird gleich wenig Vertrauen geschenkt wie einem Autohändler, Immobilienmakler oder Politiker. Da wir aber im Vertrauensgeschäft arbeiten, ist es eine schlimme Sache, wenn Menschen uns nicht vertrauen, also müssen wir etwas ändern, um wieder ihr Vertrauen zu bekommen.

Journalismus ist wichtig für die Gesellschaft, besonders in dieser Welt, wo sich die Dinge schneller und schneller drehen. Menschen sind mit einer Flut an Informationen, Fakten und Gerüchte konfrontiert und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Es ist das Rückgrat des Journalismus, dass wir die Instanz sind, an die sich Menschen wenden können, um von uns die bestmögliche Version der Wahrheit zu bekommen. Aber um das Vertrauen zu bekommen, müssen wir uns entsprechend verhalten und die Welt mit beiden Augen sehen. (Claudia Tschabuschnig, 25.7.2015)