Oft hat er vor der schleichenden Erosion der Pressefreiheit in der Türkei gewarnt; vor der Kon trolle eines kleinen, mit der Regierung verbündeten Machtzirkels über die Medienhäuser; und vor den Drohungen und der gerichtlichen Verfolgung, denen sich kritische Journalisten ausgesetzt sehen. Nun ist Kadri Gürsel, prominenter liberaler Kommentator der Zeitung Milliyet, selbst ins Visier geraten.

Den Entlassungsgrund versuchte die Leitung des Blattes gar nicht erst zu verschleiern. Die Einstellung, die der seit 1999 bei Milliyet tätige Gürsel vor seinen rund 200.000 Twitter-Followern zur Schau gestellt habe, "zerstört unsere Arbeitsumgebung", heißt es in einer Mitteilung.

Gemeint ist damit eine Nachricht, die Gürsel am Mittwoch auf der – in der Türkei vorübergehend gesperrten – Social-Media-Plattform geschrieben hatte. Er finde es peinlich, heißt es dort, wenn ausländische Staats- und Regierungschefs nach dem IS-Anschlag von Suruç jene Person für Kondolenzbekundungen anrufen müssten, "die der Grund Nummer eins für den IS-Terror" sei. Gemeint war damit Staatspräsident Tayyip Erdogan, dem ein Nahverhältnis zum Besitzer von Milliyet, Medienmagnat Erdogan Demirören, nachgesagt wird.

Das war in der aktuellen Stimmung genug – und womöglich auch ein willkommener Anlass, um den unbequemen Kritiker loszuwerden. Gürsel hatte immerhin auch in den Affären um die angebliche Kor ruption unter Regierungs- und Familienmitgliedern Erdogans – damals noch Premier – und um dessen angeblich schwarz gebauten 1150-Zimmer-Präsidentenpalast heftige Kritik geübt.

Dass er daneben als Chef der türkischen Niederlassung des International Press Institute (IPI) immer wieder für Kollegen eintrat, mag auch mit einer persönlichen Erfahrung zu tun haben: Im März 1995, als AFP-Journalist, wurde er gemeinsam mit einem Kollegen von der PKK entführt und für 26 Tage gefangen gehalten. Im daraus entstandenen Buch Dagdakiler ("Die auf dem Berg sind") schildert er den Alltag und die Gedankenwelt der PKK-Guerilla.

Erst im Februar hatte Gürsel in einer Milliyet-Kolumne beklagt, "undurchsichtige Personen ohne journalistische Vergangenheit" würden in großen Medien Kommentare schreiben und andere Journalisten als Verräter beschimpfen – während ihre Kollegen sich aus Angst selbst zensierten. "Die minimale Strafe ist die Entlassung", sagte er der BBC, "die maximale ist Haft." (Manuel Escher, 24.7.2015)