Éric Vuillard, 47, Schriftsteller und Regisseur aus Lyon, hat eine neue literarische Form begründet, die "rhapsodische Erzählung" historischer Ereignisse. Dem Ersten Weltkrieg widmete er die Ballade vom Abendland, daneben schrieb er über den Konquistador Pizarro oder den Westernmythos Buffalo Bill. Auf Deutsch erschienen und mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Literaturpreis ausgezeichnet ist nun Kongo, ein gerade einmal knapp 170 Seiten kurzer Essay, der laut Klappentext "eines der bizarrsten Kapitel der Kolonialgeschichte" aufgreift.

Vuillard führt uns in den Rokokobau des Berliner Palais Radziwill, an den Standort der Reichskanzlei, unter der später der Führerbunker entstehen sollte. 1884 fanden sich dort Vertreter aller Kolonialmächte auf Einladung Deutschlands ein, um den freien Handel im Einzugsgebiet der afrikanischen Ströme Niger und vor allem Kongo zu regeln. Freihandel klingt immer gut: "Bei den anderen ist man selten protektionistisch", meint Vuillard, der lieber von der "größten Schatzsuche aller Zeiten" spricht.

Herz der Finsternis

Ebenso ironisch beschreibt Vuillard, wie die Würdenträger jener Zeit in Frack und Zylinder die Welt unter sich aufteilten. Da ist etwa Alphonse Chodron de Courcel, Vertreter Frankreichs und "eine der schönsten Nasen der Welt". Denkt er – ein Vorfahre der Gattin von Ex-Präsident Jacques Chirac – an neue Eisenbahnstrecken in Afrika, Gummiplantagen oder Elfenbeinimporte? Nein, er blickt durch das Fenster und "fragt sich, ob die Gärtner das Stutzen der Hecken, der kleinen, um die Rotunde gruppierten Buchsbaumpyramiden nicht ein bisschen nachlässig behandeln".

Die Begrüßungsrede der Berlin-Konferenz (auch Kongo-Konferenz) hält Reichskanzler Bismarck, dann folgen der Brite Sir Edward Malet und eben der Franzose Chodron de Courcel. Die Konferenz tagt jeweils am Mittwoch. Einmal tritt Henry Morton Stanley auf, der große Entdecker und Zyniker. Er erzählt den Kolonialisten wie Kindern von seinen Fahrten, als man "auf dem Kongo und dem Mopopo gepaddelt war, als man in einer Piroge bis wer weiß wohin flussaufwärts gefahren war und ein gutes Dutzend Nilpferde erlegt hatte". Stanley spricht von Investitionen und Gewinnen, doch seine Berechnungen sind "purer Bluff"(Vuillard).

Macht nichts, die Belgier sind interessiert. König Leopold II. beansprucht und erhält den Kongo als Privatbesitz, so wie man eine Firma erbt. Der hünenhafte Monarch, dem Belgien zu klein war, hatte es schon in Argentinien versucht, in Borneo, Fidschi, Vietnam und Japan. Doch das Kolonialwarenregal war schon fast leer; zum Verkauf standen nur noch einige Innereien Afrikas. Also nahm Leopold den Kongo.

Der König setzte nie einen Fuß in seine neue Besitzung. Er schickt lieber Stanley in das neue Herz der Finsternis, 80-mal größer als Belgien. Die beiden ziehen "einen großen Vorhang aus philanthropischen Gesellschaften und Vereinigungen" (Vuillard). Schließlich hat man bei der Berliner Konferenz, die nach drei Monaten im Februar 1885 zu Ende geht, sogar über das Ende der Sklavenhaltung diskutiert.

Hinter dem Vorhang sieht es damals anders aus: Stanley lässt die Stammeskönige Verkaufsdokumente (unter)zeichnen; "wenn sie nicht unterschreiben, werden sie abgemurkst". Und die Dörfer abgebrannt. Plünderungen, Massaker prägen den Alltag. Arme Eroberer: "Man weigert sich, mir das Geringste zu verkaufen", beklagt sich ein Offizier. "So drohe ich den Eingeborenen, die Waffen sprechen zu lassen, wenn sie die Stoffe und Perlen, die ich ihnen anbiete, weiterhin zurückweisen. Ich ziele auf eine Gruppe Schwarzer und erschieße einen Mann. Alle verschwinden. Wir kontrollieren fünf Fischereien und finden dort vier Hühner, ein bisschen Maniok und ein paar Bananen."

Kolonialabenteuer sind teuer. Also stellt Leopolds Statthalter und Kautschuksammler Léon Fiévez eine Regel auf: Wer einen Schuss abgibt, muss die rechte Hand des Getroffenen abhacken und ins Hauptquartier bringen, als Beweis für die abgefeuerte Patrone. Trotz des Munitionsmangels "nimmt die Bevölkerung ab", so Vuillard lapidar. "Es heißt, dass man Fiévez einmal an einem einzigen Tag 1308 Hände brachte. 1308 rechte Hände. 1308 Menschenhände. Das musste komisch sein, dieser Haufen Hände."

Als wisse Vuillard selbst nicht recht, wie er mit diesen Ungeheuerlichkeiten fertigwerden soll, schwankt er zwischen Sarkasmus und Komik, Bitterkeit und Lakonik. "Afrika hat gar kein Geheimnis, niemand hat eins, wir sind nur Mündungen, Deltas und Sümpfe", sagt der Schwarze Kontinent, diese verwunschene Projektionsfläche weißer Kolonialisten. Bei denen liegt laut Vuillard das einzige Rätsel.

"Die wahren Sümpfe, die Maske", so schreibt er, seien "die Berliner Konferenz und der Wohnstand der Nationen". Der Essay ist voller Brüche, er endet irgendwo in Belgien, wohin Fiévez zurückgekehrt ist. Mit anderen Betrunkenen tauscht er an einem Schnellimbiss Erinnerungen aus. "Er riecht nach Bratfett, die Finger geschwollen", beschreibt ihn der Essayist. "Fiévez lungert unter den Hochhäusern herum." Jetzt zermartet sich der Folterer selbst, aber es ist schon zu spät. (Stefan Brändle, Album, 17.7.2015)