Im Zuge einer kürzlichen Spurensuche nach den Jahren meiner Kindheit war Gelegenheit, eine Bildungs- und Erlebnislücke zu schließen: der Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Es lag unweit unseres damaligen Wohnortes und war eine dem Kinde thematisch nicht zugängliche Welt. Erst im Mai 1945, als elternloser Dreizehnjähriger gleich Millionen anderer Flüchtlinge aus dem Osten nach Nirgendwo unterwegs, erfuhr ich von den Vernichtungslagern des Naziregimes und konnte das Geschehene weder glauben noch verstehen.
In meinem Beruf wird man zum Allrounder. Sich aber intensiv mit dem Holocaust und seinen Folgen beschäftigen zu müssen ist eher eine Ausnahme. Als ich Anfang 1992 die in meiner Laufbahn letzte Ernennung auf den Botschafterposten in Den Haag erhielt, ahnte ich nicht, dass ich einen beträchtlichen Teil meiner politischen Arbeit diesem Themenkomplex widmen würde: Das KZ Mauthausen gilt den Niederländern als das Schicksalslager ihres Volkes, seit 1942 die ersten Politik-Sträflinge des Landes dort interniert und schändlich versklavt wurden.
Wir kamen im Frühjahr 1992 in den Niederlanden an – und fanden uns in einer anderen Welt wieder. Man war eine der großen Seefahrer- und Handelsnationen Europas und der Blick stets nach außen gerichtet. Und man war im langen Widerstand gegen fremde Kräfte zu einer selbstbestimmten und bekennerischen Gemeinschaft geworden. Der Habsburger Philipp II. und sein Feldherr, der Herzog von Alba, haben das nach jahrzehntelangen Unabhängigkeitskriegen zur Kenntnis nehmen müssen. Und auch die Nordsee wird immer Lebensader und zugleich bedrohliche Freundin bleiben. Ein Drittel des Staatsgebietes liegt, der See abgerungen, unter dem Meeresspiegel, und der Klimawandel wird das Land vor neue schwere Herausforderungen stellen. Selbstbestimmung, Zusammenhalt, und wenn nötig, Widerstand wurden die prägenden Merkmale dieser republikanisch geprägten Monarchie.
Vernichtendes Urteil
Anders als in Österreich wurde der Überfall Hitlers auf die neutrale Niederlande weitestgehend als Schmach empfunden. Unterschiedlich war auch der staatsrechtliche Zustand: Die Niederlande blieben als Staat bestehen, der Regierungsapparat aber arbeitete weiter, unter starker Knebelung von Hitlers Reichsstatthalter, des Österreichers Seyss-Inquart. Der Widerstand gegen seinen gefürchteten Machtapparat war von Anfang an weit verbreitet.
Die Wahl Waldheims stieß in den Niederlanden auf besonders heftige Kritik: Zwar respektierte man auf staatlicher Ebene den Wahlentscheid und die Legitimität des Amtsinhabers, lehnte aber jeglichen Kontakt zu diesem ab. Die Zusammenarbeit auf Beamtenebene sollte normal weiterlaufen. Auch würde die Königsfamilie weiter ihren Winterurlaub in Lech verbringen; unsere Staatsbürger sollten nicht für Waldheims Fehlverhalten büßen müssen. Die öffentliche Meinung hingegen war frei, sich über die Vorgänge in Österreich ihr Urteil zu bilden. Dieses war vernichtend. Der rasante Aufstieg Jörg Haiders führte zu weiteren Irritationen.
Ich kam zur Erkenntnis, dass wir die öffentliche Meinung nicht von außen, sondern nur durch einen von innen gestützten Meinungsumschwung würden beeinflussen können. Als mögliche Partner boten sich zwei Institutionen an: die Anne-Frank-Stiftung und der Verband ehemaliger niederländischer Widerstandskämpfer. Beide genießen im Land hohes Ansehen. Die in Österreich – zumindest bis dahin – im politischen Diskurs geübte Zurückhaltung zum Thema Widerstand, um nicht zu sagen: seine weitgehende Ausblendung, führte dazu, dass er in den Niederlanden gänzlich unbekannt geblieben war.
In der Anne-Frank-Stiftung wurde die Tätigkeit von Österreichs Gedenkdienern sehr gelobt. Die Botschafter Deutschlands und Österreichs waren regelmäßige Gäste bei Diskussionsveranstaltungen. Ich besuchte auch die hochbetagte Miep Gies, eine gebürtige Meidlingerin, die die Familie Frank unter Lebensgefahr im Versteck versorgt hatte. Das Tagebuch der Anne Frank hatte sie im Moment der Verhaftung geistesgegenwärtig an sich gebracht und so erst die weltweite Anne-Frank-Bewegung möglich gemacht. Nach dem Abtreten Waldheims erwirkte ich eine Einladung von Bürgermeister Zilk zu einem letzten Besuch ihrer Heimatstadt, in der sie auch von Klestil empfangen wurde.
Die Stiftung honorierte unser Engagement: Die Weltpremiere ihrer neugestalteten Ausstellung startete 1996 im Wiener Rathaus. Nationalratspräsident Heinz Fischer hielt die Eröffnungsrede. Miep starb 100-jährig vor wenigen Jahren. Über mein Betreiben hat die Stadt Wien einen Park in Meidling nach ihr benannt. Sie lebt fort, millionenfach, im Tagebuch des jüdischen Mädchens.
Gleichgesinnte waren hilfreich: Edmund van Trotzenburg, Ordinarius in Klagenfurt, verdanke ich, dass ich am Grabe des Studenten Karl Gröger aus Wien einen Kranz niederlegte, auf einem "Ehrenfriedhof" in den Dünen von Bloemendaal. Er wurde mit Niederländern exekutiert, die versucht hatten, das Bevölkerungsregister von Amsterdam in Brand zu setzen, um die Adressen der dortigen Juden zu vernichten und diese vor der Deportation zu bewahren. Am Friedhofseingang erwartete uns Carin, eine junge Lokalreporterin. Sie sah uns fragend und zugleich dankbar an: Noch nie habe sich jemand aus Österreich um Karl Grögers Grab gekümmert.
Morden und Sterben
Wo immer ich als Botschafter tätig war, hatte mich die Erinnerung an das Morden der Weltkriege und das Sterben unserer Landsleute eingeholt: Auf den Soldatenfriedhöfen im nordafrikanischen El Alamein, in den elsässischen Vogesen, in Friesland und nun in Holland. Der Vorsitzende des "Rates ehemaliger niederländischer Widerstandskämpfer" hieß Sebil (Bill) Minco. Es bedurfte mehrerer langer Gespräche, um ihn zu überzeugen, wie ernst mir mein Anliegen war und dass ich nach einer fairen Chance suchte, die niederländische Seite mit dem österreichischen Widerstand gegen das Naziregime vertraut zu machen. Die Feierlichkeiten zum Gedenken des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges würden einen guten Rahmen für eine solche Begegnung bieten. Mein Gegenüber akzeptierte schließlich diese Idee. Bei einem Wien-Besuch beschlossen Vertreter beider Seiten die Abhaltung eines gemeinsamen Widerstands-Symposiums in Haarlem im Gedenkjahr 1995.
Peter Marboe, Leiter unserer Kultursektion, unterstützte unsere Öffentlichkeitsarbeit durch die Beistellung themenrelevanter Ausstellungen. Besondere Beachtung fand Karl Stojkas malerisches OEuvre "Ein Kind in Birkenau". Das Gedenkzentrum des ehemaligen KZ Westerborg war ein kongenialer, sehr engagierter Partner. Der mediale Höhepunkt freilich wurde das Symposium der Widerstandskämpfer in der Stadthalle von Haarlem. Teilnehmer aus Österreich waren der jüngst verstorbene Staatssekretär a. D. Ludwig Steiner als Delegationsleiter, Univ.-Prof. Erika Weinzierl, Prof. Wolfgang Neugebauer (DÖW), Carl Szokoll (Leiter des Widerstandes am 20. Juli 1944 in Wien) und Alfred Ströer (ÖGB). In Referaten und Diskussionsrunden tauschten beide Seiten ihre wechselseitigen Erfahrungen aus. Alle Österreicher beeindruckten durch ihre Beiträge: 18.700 tote Österreicher, davon 2700 im aktiven Widerstand, wurden der Vergessenheit entrissen.
"Begnadigt" zu lebenslang
Mehr als hundert Personen hörten interessiert zu, darunter zahlreiche Journalisten. Das mediale Echo war groß und sehr positiv. Dies lag auch am Engagement, mit dem die niederländischen Partner uns halfen. Sie gaben mir das Gefühl, dass wir an einem gemeinsamen Projekt arbeiteten und dass sie unseren Erfolg wollten! Konnten wir mehr erwarten? Bill Minco spielte eine Schlüsselrolle. Ich war froh, dass ich sein Vertrauen gewinnen konnte. Er war nur neun Jahre älter als ich, aber schon seit 1942 eine politische Figur. Er hatte an Anschlägen teilgenommen und wurde zum Tode verurteilt. Da noch nicht 20 Jahre alt, wurde er zu lebenslanger Haft "begnadigt". In Mauthausen begann sein Martyrium, zwei weitere KZ folgten (Auschwitz, Dachau). Trotzdem habe ich nie ein böses Wort von ihm über Österreich und seine Bewohner gehört. Den Ort seines Leidensweges aber besuchte er jährlich zum Tag der Befreiung mit seinen Schicksalsgenossen.
Am 9. Mai 2000 lud er mich und meine Gattin Paquita ein, sein Gast zu sein: Unter der Leitung von Simon Rattle widmeten die Wiener Philharmoniker der internationalen Mauthausenbewegung mit Beethovens Neunter ein nächtliches Konzert im Steinbruch des Lagers. Bundespräsident Klestil hielt eine knappe Gedenkrede, die zum Besten zählt, das ich je zu dem Thema gehört habe. 6000 Geladene waren anwesend, zu ihrer Seite die Felsabstürze, hinter ihnen die gefürchtete Todesstiege, in Dunkel gehüllt. Unvergessen bleibt mir die vollkommene Stille der Tausenden während der Gedenkminute.
Neben uns saß Bill, unbewegten Gesichts. Bis die Ode an die Freude uns ein Loslassen von den Bildern des Schreckens und die Hinwendung zu einer hoffnungsvolleren Zukunft erlaubte. Wenig später erhielt ich Bills Biografie "Koude voeten, begenadigd tot levenslang" ("Kalte Füße", der Buchtitel spielt darauf an, dass Minco wegen der Erkrankungen in der Gefangenschaft zeitlebens kalte Füße hatte, Anm.). "Met zeer warme gevoelens van verbondenheid" lautete die Widmung. Ich war in Mauthausen angekommen. (Otto Maschke, Album, 18.7.2015)