Wien – Wonach strebt die Kunst der Gegenwart? Gibt es eine Ethik? Sehnsüchte? Neue Verbindlichkeiten im Labyrinth der Beliebigkeit? Zumindest "Symptome einer Schwellenzeit" will der Kunsthistoriker Hanno Rauterberg erkannt haben. In seinem bei Suhrkamp erschienenen Essay Die Kunst und das gute Leben – Über die Ethik der Ästhetik geht der Zeit -Feuilletonist mit den etablierten Akteuren des Kunstbetriebs hart ins Gericht und plädiert für eine Befreiung des Künstlers vom Gängelband der Konzerne, Großsammler und öffentlichen Auftraggeber.
Das Problem illustriert Rauterberg bildhaft, mittels mehr oder minder kunsthistorischer Begebenheiten der letzten 15 Jahre, die normalerweise im Strudel postmoderner Kulturüberfrachtung verloren gingen, würde der scharfsinnige Chronist sie nicht zur Zeitdiagnose heranziehen. So zum Beispiel der Blick auf eine Aktion der Kunsthalle der Deutschen Bank aus dem Jahr 2013, als sich an einem Wintertag eine Menschenschlange von über einem Kilometer Länge vor der Einrichtung gebildet hatte. Künstler, Hobbymaler wie Profis, waren von der Bank eingeladen worden, ein Werk vorbeizubringen, es dem bekannten Kurator René Block zu zeigen und für einen Tag (gratis!) in der Halle auszustellen.
"Die Macht des Geldes traf auf die Macht der Kunst. Die Künstler mussten in der Kälte warten, mussten duldsam sein und dankbar. Die Bank hingegen präsentierte sich als offenherzig, spendabel, als Hort des Allgemeinwohls. (...) Die Gemälde, mit großer Hoffnung eingeliefert, waren dann kaum mehr als das dekorative Beiwerk einer langen Partynacht."
Per Auftrag in die Banalität
Die Kunst, so befindet Rauterberg, sei längst zurück in einem vormodernen Zeitalter, in dem der "postautonome" Auftragskünstler die Szene dominiere. Seine Auftraggeber: Konzerne, Galerien, Kuratoren, Großsammler und die sogenannte öffentliche Hand, deren elitäre Vergabebeiräte undemokratische Förderentscheidungen träfen. Ästhetisch hätten die neuen Abhängigkeiten schnurstracks in Banalität oder bequeme Unverständlichkeit geführt; und selbst dort, wo das subversive, freche, aufrüttelnde Element der Kunst noch zutage tritt, werde es "wie eine kostbare Ressource von Konzernstrategen nutzbar gemacht". Denn nicht zuletzt gelte der flexible, risikofreudige und stets um kreative Lösungen bemühte Künstler als Vorbild in der postfordistischen Arbeitswelt, in der wir heute leben.
Auch die Kirche, von der sich die Kunst mühsam lösen musste, kehrt als Auftraggeber zurück. Sie sei ebenfalls durchdrungen von der "Ökonomisierung des Denkens und Handelns", wie Rauterberg schreibt. Ja, sogar die Sixtinische Kapelle, in der sonst Päpste gewählt werden, öffnete im Jahr 2014 ihre Pforten für ein Galadinner des Porschekonzerns.
In seinem famosen, gut zu lesenden Essay bleibt Hanno Rauterberg nicht bei leeren Worthülsen, sondern nennt auch Namen. Von Galeristen, Künstlern, Superreichen, Kuratoren, Journalisten und Institutionen, die diese Entwicklung befördern würden. Er beschreibt das für ihn zweifelhafte Wirken Jeff Koons' und Ólafur Elíassons ebenso wie die Exzesse am Kunstmarkt, das sorglose Engagement westlicher Museen in reichen Golfstaaten oder von Architekten, die mit Chinas Machthabern paktieren. Rauterbergs Analyse ist bestimmt, aber entspannt, und verfällt nie in Hysterie oder Zynismus.
Urbanismus von unten
Und die neue Ethik, deren Symptome der Autor erkannt haben will? Er sieht sie in einem "Urbanismus von unten", in Street-Art, Crowdfunding, freien, selbsterhaltenden Kollektiven und den technischen Möglichkeiten der Digitalmoderne. Es ist jener Demokratisierungsschub abseits staatlicher Strukturen, der auch vielen Protagonisten der Neuen Linken vorschwebt.
Mit Die Kunst und das gute Leben (205 Seiten, € 15,50) legt Hanno Rauterberg einen zugleich philosophischen und praxisnahen Diskussionsbeitrag vor, der vor allem jenen ein Koordinatensystem gibt, denen die etablierte Kunst der Gegenwart schon lange nichts mehr sagen kann. (Stefan Weiss, 15.7.2015)