"Street photographer" Joel Meyerowitz machte die Farbfotografie, die bei den Dokumentaristen der frühen 1960er-Jahre verpönt war, salonfähig. Obiges Bild entstand 1975 in New York.

Foto: Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery

Sarah, Provincetown, Massachusetts, 1981.

Foto: Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery

New York, 1963.

Foto: Joel Meyerowitz,Courtesy Howard Greenberg Gallery

New York, 1963.

Foto: Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery

Florida, 1965.

Foto: Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery

Red Interior, Provincetown, Massachusetts, 1977.

Foto: Joel Meyerowitz, Courtesy Howard Greenberg Gallery

From the Car, New York Thruway, 1975.

Foto: Joel Meyerowitz, courtesy Howard Greenberg Gallery

"Street photographer" Joel Meyerowitz in Wien.

Foto: Michael Freund

STANDARD: Wann beschlossen Sie, Fotograf zu werden?

Joel Meyerowitz: Das war ein ganz bestimmter Moment. Ich war 24 und arbeitete als Art Director in einer New Yorker Werbeagentur. Für einen Auftrag sah ich Robert Frank (dem damals schon bekannten Fotografen und Schöpfer von The Americans) bei seiner Arbeit zu. Wie der zwei junge Mädchen für einen Katalog aufnahm, wie er unauffällig und behände immer die besten Gesten und Interaktionen einfing, das hat mich so beeindruckt, dass ich nachher stundenlang durch die Stadt ging, überall Sujets wahrnahm, die man aufnehmen könnte. Ich ging zurück in die Agentur, kündigte und sagte meinem Chef, ich wollte Fotograf werden. Der war sehr verständnisvoll und fragte nur, ob ich überhaupt eine Kamera hatte. Als ich verneinte, gab er mir eine aus seiner Schublade.

STANDARD: Was war so besonders an der Art von Robert Frank?

Meyerowitz: Ich kannte bis dahin nur Modefotografen, die in mit Ausrüstung vollgestopften Studios hinter ihrer Kamera mit Stativ standen und einfach knipsten – total langweilig. Robert hingegen machte sichtbar, was gerade typisch und besonders war. Es war, als würde er mit dem, was sich vor der Kamera abspielte, verschmelzen. Es war eine Offenbarung – ich kannte ja nur Malerei und sonst nichts.

STANDARD: Wie Sie einmal Ihren Spaziergang durch die Stadt danach beschrieben haben, das klingt, als wären Sie irgendwie high gewesen, als ob alles plötzlich ungeheure Bedeutung angenommen hätte.

Meyerowitz: So war’s auch. Ich hab die Stadt mit anderen Augen gesehen. Es ist wie nach einem Fellini-Film, in dem sich Verrücktes abspielt: Man geht nachher auf die Straßen New Yorks und sieht, hier ist es ja genauso verrückt. Robert hatte Sauerstoff in meinen Kopf gepumpt. Ich fühlte mich lebendiger als je zuvor.

STANDARD: Anfang der Sechziger begann die kreative Revolution in der US-Werbung. Haben Sie je bereut, nicht in der Branche geblieben zu sein?

Meyerowitz: Nein. Ich habe ja weiterhin in der Werbung gearbeitet, aber eben als Fotograf – wie übrigens viele Kollegen, nicht nur Robert, auch Gary (Winogrand, Anm.), Diane Arbus, Lee Friedlander. So konnten wir in relativ kurzer Zeit – alles in allem vielleicht sechs Wochen im Jahr – viel Geld verdienen und uns leisten, als freie Fotografen unseren Projekten nachzugehen.

STANDARD: Viele Jahre später machten Sie ein Projekt mit Ihrem Vater. Für eine Videodokumentation namens "Pop" interviewten Sie ihn über sein Leben. Da kommen Stellen vor, die Sie als wichtig für Ihre spätere Art zu fotografieren bezeichnen.

Meyerowitz: In seiner Jugend war er ein Amateurboxer in der Bronx. Und er brachte mir bei, mögliche Handlungen von anderen vorherzusehen. Ich war wie alle meine Freunde in einer Bande, und wir mussten ständig schneller sein als unsere Gegner.

STANDARD: Das erinnert daran, wie Kurosawa einen wahren Samurai beschreibt: immer antizipieren, was sein wird, und vorher schon das Richtige tun.

Meyerowitz: Ja, es ist irgendwie ähnlich, und es nützte mir dann beim Fotografieren. Gary (Winogrand, Anm.) und ich unterhielten uns oft darüber, dass es so etwas wie einen sechsten Sinn gibt: Wenn man durch die Straßen geht, spürt man, dass sich irgendwo etwas verdichtet oder zusammenbraut, und man ist mit seiner Kamera sozusagen schon im Anschlag. Das sind subtile Signale, und man kann durch jahrelanges Training lernen, darauf zu achten, wie Athleten, die die richtigen Bewegungen meistern können.

STANDARD: Brauchten Sie diese Fähigkeit auch für Ihre späteren Arbeiten? Da haben Sie ja nicht plötzliche Bewegungen und Interaktionen auf den Straßen festgehalten, sondern langsame Veränderungen etwa auf Cape Cod verfolgt, Menschen porträtiert oder die Parks von New York dokumentiert.

Meyerowitz: Ich würde trotzdem nicht dieses Antizipieren unterschätzen. Es ist überraschend, wie sehr es auch bei langsamen Veränderungen auf den richtigen Moment ankommt, auch wenn ich später mit großformatigen 8-x-10-Zoll-Plattenkameras und Stativ gearbeitet habe. Man muss dennoch wissen, wo man als Nächstes hingehen soll und wann der richtige Moment für genau dieses Bild von einem Abend ist. Dieser sechste Sinn nützt immer.

STANDARD: Als Ihre Karriere steil nach oben ging, wurden Sie als "street photographer" bekannt. Aber das beschreibt Sie nur zum Teil. Sie fingen mit Farbe an, was bei den Dokumentaristen in den frühen Sechzigern verpönt war. Dann arbeiteten auch Sie in Schwarz-Weiß, dann machten Sie als einer der Ersten die Farbfotografie hoffähig und der Lichtbildkunst zugänglich. Danach machten Sie gänzlich andere als "Street"-Fotos während einer einjährigen Reise durch Europa, später dokumentierten Sie etwa die Stimmungen an der Atlantikküste, wo gar keine Straßen zu sehen sind. Zwischendurch machten Sie ein wunderbares Buch über rothaarige Menschen, dann eines mit Ihren Fotos von 9/11, wo Sie als Einziger unbeschränkten Zugang zu allen Zonen hatten. Als was kann man Sie eigentlich bezeichnen?

Meyerowitz: Als neugierig. John Szarkowski, ein früherer Chef der Fotoabteilung am MoMA, sagte mir einmal, dass es in der Fotografie um Ideen geht. Das traf mich wie ein Pfeil. Ich verstand, dass es nicht genug und nicht das Richtige war, immer bessere Bilder zu machen. Ich wurde hungrig danach zu verstehen, was ich mit meinen Fotos wollte. Wenn ich durch die Straßen streifte und genau sehen wollte, was sich zwischen Menschen und zwischen ihnen und Dingen abspielte, dann waren das Spiegelbilder davon, was mich in meinem Inneren interessierte.

STANDARD: Was bedeutete das für die Bilder, die Sie machten?

Meyerowitz: Zunächst einmal wollte ich wissen, was das Medium Fotografie überhaupt imstande ist auszusagen. Wie kann es Ideen produzieren? Ganz früh hatte ich einmal geschrieben: Ich bin da, um dem Medium zu dienen. Viel höher waren meine Ambitionen nicht, denn es gab in diesem Metier ja kaum Geld außerhalb der Werbung. Die Hoffnung war, dass das Medium Antworten haben würde auf unsere Sinnfragen. Was bin ich also für ein Fotograf? Vielleicht jemand, der die Grenzen der Wahrnehmung immer ein wenig weiterschieben wollte, um zu sehen, wie viel ich in einem Sekundenbruchteil von einer spannenden Wirklichkeit wiedergeben kann.

STANDARD: Sie gelten als einer der Pioniere der Farbfotografie. Da müssten Sie ja Ernst Haas gekannt haben, dessen Karriere im Nachkriegswien begann und der sehr früh unter anderem große Farbstrecken für das Magazin "Life" schoss.

Meyerowitz: Und ob. An einem bestimmten Punkt gab er meinem Leben eine Wendung, und zwar wie folgt: 1985 bekam ich den Ansel-Adams-Preis für beste Buchpublikation ("A Summer’s Day"), und Ernst Haas war der Moderator bei der Verleihung im Metropolitan Museum. Ich saß also unten im Publikum, und er erzählte eine tolle Geschichte nach der anderen auf der Bühne. Ich meine, er war unglaublich, improvisierte, machte Witze, alle hingen an seinen Lippen. Ich hingegen war immer zu schüchtern, um vor einer größeren Gruppe irgendetwas zu sagen. Das wollte ich überwinden, und als ich ihn da oben sah, sagte ich mir: Mann, das muss ich auch einmal schaffen!

STANDARD: Ab dann haben Sie sich bemüht?

Meyerowitz: Ich kann jetzt vor tausend Leuten reden. Kein Problem. Hab ich irgendwie ihm zu verdanken, er hat mir gezeigt, dass das Spaß machen kann.

STANDARD: Sie tragen immer eine Leica mit sich. Suchen Sie nach wie vor nach den "richtigen Momenten", wo immer Sie gerade sind?

Meyerowitz: Sie sprechen ein wichtiges Problem des Alters an. Wenn man 77 ist, hat man schon sehr viel gesehen, antizipiert, dokumentiert. Vieles ist einfach nicht mehr neu für mich. Also was kann ein 77-Jähriger im heutigen kulturellen Klima Besonderes ausmachen?

STANDARD: Was ist die Antwort, etwa in der Toskana, die Sie seit 20 Jahren kennen und wo Sie mit Ihrer Frau, der Schriftstellerin Maggie Barrett, seit zwei Jahren leben?

Meyerowitz: Ehrlich gesagt, es treibt mich nicht viel in der Umgebung dazu an zu fotografieren. Ich bin jetzt mehr nach innen gerichtet, ich nehme Interieurs auf, Objekte, Stillleben. Und noch etwas: Ich bin nicht mehr der junge Charmeur wie in den Siebzigern, als ich zum Beispiel Frauen einfach so in den Straßen fotografierte. Wenn ich das heute machte, würden die denken, ich sei ein alter Lustmolch. Als was kann ein nach Mittelitalien versetzter New Yorker hier sehen? Ich sehe leider nur, was ich auch in New York heute sehen würde: zu viele Leute an ihren Handys. Das find ich langweilig. Die Leute interagieren viel weniger als früher – aber davon lebten viele meiner Bilder!

STANDARD: Haben Sie sich Ihre Buchprojekte selbst ausgedacht und sind dann zu Verlagen gegangen, oder waren es Auftragsarbeiten?

Meyerowitz: Beides. Die "Redheads" zum Beispiel sind die Folge davon, dass ich häufiger Leute porträtierte – in bewussten Sitzungen. Unter ihnen waren natürlich auch Menschen mit roten Haaren. Dann suchte ich sie gezielt und machte schließlich ein Buch aus den Bildern. Bei den Parks der Stadt New York hingegen war es ein Auftrag. Nachdem meine Fotos von 9/11 herausgekommen waren, kamen der Bürgermeister und der Stadtrat, der unter anderem für Grünanlagen zuständig ist, zu mir und sagten, die Parks seien seit den Dreißigerjahren nicht dokumentiert worden. Ich schaute mir sie dann ein paar Wochen lang an und sagte zu unter der Bedingung, dass ich sie als Wildnis fotografieren würde, die sie ja teilweise wirklich sind. Bloomberg und sein Mitarbeiter waren einverstanden, Sponsoren wie HP hatten wir auch.

STANDARD: Sie arbeiten heute mit Digitalkameras. Mit Vorbehalten?

Meyerowitz: Nein. Ich mag die Technik. Ich hab Kleinbild- und Mittelformatkameras und drucke zu Hause alles selber aus. Im Oktober werde ich eine Schau in Bologna haben.

STANDARD: Welches Thema?

Meyerowitz: Ich bekam exklusiven Zugang zum Studio des Malers Giorgio Morandi und durfte alles fotografieren, was sich dort befindet, Flaschen, Schachteln, das ganze Zeug. Morandi war für mich immer sehr wichtig. Mit den Bildern möchte ich erkundigen, welcher Geist in all diesen Objekten steckt, der mit seiner Kunst zu tun haben könnte.

STANDARD: Wenn Sie wegen einer Ausstellung in eine Stadt kommen, so wie jetzt nach Wien: Sind Sie immer noch unterwegs, um als "street photographer" diese Stadt zu erkundigen und besondere Momente zu finden?

Meyerowitz: Absolut!

STANDARD: Und haben Sie so etwas in Wien gefunden?

Meyerowitz: Na ja, wir sind erst heute gekommen, und es hat geregnet. Aber ich hab mich schon nach den Gegenden erkundigt, wo die meisten Leute sind. Und ich bin neugierig.

STANDARD: Wie war das, als Sie Andy Warhol kennenlernten?

Meyerowitz: Das war Anfang der Sechziger. Ich hatte einen Job als Art Director für ein Magazin für Babysachen, "Infant Care". Einmal brauchte ich Bleistiftzeichnungen von Babykleidchen und derlei Sachen. Ich gab den Auftrag an einen kleinen, stillen, irgendwie fast zusammengeschrumpften unbekannten jungen Mann namens Andy Warhol. Nach einiger Zeit kam er mit wunderbaren Arbeiten ins Büro, so sanft und leicht, als wären sie mit einem Federflaum gezeichnet worden. Das Magazin hat ihm die Zeichnungen nie zurückgegeben. Die waren dann in einem Abstellraum und sind wohl irgendwann weggeschmissen worden.

STANDARD: Was die heute wohl wert wären?

Meyerowitz: Nicht auszudenken! (Michael Freund, 15.7.2015)