Andreas J. Obrecht, "Wozu wissen wollen? Wissen – Herrschaft – Welterfahrung. Ein Beitrag zur Wissensdiskussion aus kultur- und wissenssoziologischer Perspektive". 30 Euro / 480 Seiten, Wien, Edition Ausblick 2014.

Cover: Edition Ausblick

Jeden Herbst pilgern tausende junge Menschen in die Hochschulen, um als Mitglied dieser Wissensindustrie vom Zauberlehrling zum "Meister" oder gar zum "Hohepriester" (Professor) mit absoluter Deutungsmacht aufzusteigen. Davor liegt die Hürde der sinnvollen Entscheidung für die "richtige Richtung", denn nach der Prägung durch die schulische Behütungs-, Normierungs- und Disziplinierungsindustrie erweist sich die Vielfalt der Studienmöglichkeiten als nicht zu unterschätzende Herausforderung.

Sobald sie endlich einmal inskribiert sind, wird den Erstsemestrigen versichert, ihr Schulwissen sei veraltet und das zu bewältigende Universitätswissen bis Studienende überholt. Wozu dann Jahre hinter Schulbänken kauern, wenn am Ende statt der Aussicht auf ein erfolgreiches Leben der Zwang zu weiterem Lernen steht? Auf einem allgemeineren Niveau stellen sich weitere wichtige Fragen: Gibt es überhaupt "sinnvolles" Wissen? Und woran bemisst sich dieses? An Entscheidungen des Nobelpreiskomitees? An Publikationsindizes? An der Zahl entdeckter schwarzer Löcher oder verbesserter Nuklearsprengköpfe?

Rund um den Globus

Mit solchen Fragen hat sich der Kulturanthropologe und ORF-Ö1-Moderator Andreas J. Obrecht gleichsam an eine Vermessung des gesamten bekannten Universums herangewagt. Auf seiner philosophisch-literarischen Odyssee auf den Spuren von Geistesgrößen wie Galileo Galilei, Alexander von Humboldt, Charles Darwin oder Ivan Illich und Stephen Hawking geleitet Obrecht seine Leser durch den Kosmos beherrschender Wissenssphären, von Astro- und Kernphysik, Evolutions- und Hirntheorie, Globalisierungs- und Chaosforschung.

Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Abenteuerreise in den Grenzgebieten unserer modernen Welt, wo trotz Jahrzehnten einer wissenschaftsbasierten Entwicklungspolitik der Erfolg ausbleibt. Hier sterben täglich 20.000 Kinder an schmutzigem Wasser und flüchten 100 Millionen vor Hunger und Krieg. Persönlich konfrontiert mit solch beschämenden Erfahrungen im Rahmen zahlloser Forschungs- und Entwicklungsprojekte rund um den Globus sucht der habilitierte Soziologe nach Antworten, warum es wenigen immer besser gehe, den meisten aber immer schlechter, wofür der "wissende" Westen die wachsenden Probleme wie Klimakollaps, Ozeanvergiftung, Waldvernichtung und Verelendung hinzunehmen scheint.

Probleme von morgen

Die Antwort ist für den Autor erschreckend einfach, aber tragisch paradox: Wir machen alles richtig – gemäß unseren Antworten von gestern, während die Probleme längst von morgen sind. Eine Ursache dieses Teufelskreises liege in unserer Forschungskultur, die weitgehend von der Konkurrenz um Projektgelder, Ansehen und Einfluss geprägt ist. Als Ausweg aus dieser unbefriedigenden Situation plädiert Obrecht für kooperatives Forschen und Lernen, das sich an lebensweltlichen Problemen orientiere.

Dies würde aber von Wissenschaftern erfordern, sich den in der Wissenschaftswelt herrschenden Zwängen zu widersetzen und somit auf Karrierechancen zu verzichten. Einblicke in die vielschichtigen Folgen eines solchen Verzichts erlaubt der Autor mit amüsanten autobiografischen Exkursen, die dem 480 Seiten schweren Opus magnum eine erfrischende Leichtigkeit verleihen.

So forschte der Wissensrebell in den frühen 90er-Jahren auf eigene Faust nach alternativen Antworten in außereuropäischen Lebenswelten, etwa bei Zauberern in der Karibik oder bei Stammeskriegern im Hochland von Papua Neuguinea. In diesen vormodernen Kulturen wurde über Generationen "sinnvolles" Wissen als hilfreiche Technik zur Bewältigung einer dauerhaften Lebenswelt verstanden. Zeit galt dort als Kreislauf, wodurch sich die Welt wiederkehrend erneuert.

Verstummte Götter

Vorkommnisse wurden nicht als "zufällig" interpretiert, sondern als sinnvolle Erscheinungen notwendiger überirdischer Zusammenhänge, deren "Offenbarung" den Magiern, gleichsam vorwestlichen Wissenschaftern, oblag.

Wer eine solche ganzheitliche Kultur verlässt, um sich einer modernen, pulsierenden Stadt anzuschließen, unterwirft sich einer von Uhren und unerklärlichen Zufällen beherrschten Welt, in der die alten, sinnstiftenden Götter für immer verstummen. Hier wird der einstige Stammeskrieger unumkehrbar zum modernen Wissensmigranten zwischen dynamischen, um Vormachtstellung konkurrierenden Wissenswelten. Diesem Schicksal unterliegen alle Angehörigen der modernen Welt, ob assimilierter Kopfjäger, Studentin, Finanzminister oder Wissenssoziologe.

Noch kein Ausweg

Dies mag erklären, warum dem Autor die elegante Verknüpfung der durchwanderten, hochkomplexen Wissensbereiche zu eindeutigen Schlüssen mit bestechender Überzeugungskraft gelingt, während seine abschließenden Lösungsvorschläge grundlegende Fragen aufwerfen.

Denn auf eine "fundamentale Transformation des menschlichen Denkens" hin zu globaler Kooperation und nachhaltiger Lösungsorientierung zu hoffen, ist zwar menschlich, widerspricht aber systemischen Erklärungsansätzen über den Wandel von Verhaltensmustern, wonach veränderte Rahmenbedingungen unverzichtbar wären. Wer aber sollte diese Rahmenbedingungen verändern und nach welchem "richtigen" Wissen, wenn wir alle Teil dieses Systems sind? Wie es scheint, gibt es aus dem forschenden Suchprozess der Moderne vorerst noch keinen Ausweg. (Harald A. Friedl, Album, 11.7.2015)