"Seltsam, selbst wenn ich versuchte, mich auf diese Stadt zu konzentrieren, kehrten meine Gedanke sofort wieder zu Kärnten zurück": Antonio Fian.

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"Von dorther scheinen die Stimmen zu kommen": das 1974 errichtete "tote Hochhaus" in Pécs.

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"Sie haben keine Ahnung, was in Kärnten zusammengetupft, zusammengeschottert, zusammenge-tschumpert wird": Werner Kofler und Antonio Fian bei einer gemeinsamen Lesung in Wien (1998).

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Wie konnte ich nur? Wie konnte ich nur, so würde ich, dachte ich bereits am Tag meiner Ankunft in Pécs, beginnen, wie konnte ich nur die Einladung annehmen, den ganzen Monat März in dieser schönen alten, alten schönen Stadt zuzubringen, da ich doch wusste, dass ich damit auch die Verpflichtung eingehen würde, einen Text über diese Stadt zu schreiben, was es mir schwer machen würde, einer anderen Verpflichtung nachzukommen, die ich schon vorher eingegangen war, nämlich im Monat danach an der Universität Klagenfurt eine Poetikvorlesung abzuhalten, die mir – auch das wusste ich – eine große Schreibanstrengung abverlangen würde, denn ich hatte vor, in Klagenfurt über die Literatur Werner Koflers zu sprechen und die Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt für diesen Autor, für Literatur überhaupt einzunehmen, weshalb ich sie ständig würde belügen müssen, indem ich ihnen sagte, es sei richtig und wichtig, sich mit der Literatur Werner Koflers, überhaupt mit Literatur auseinanderzusetzen, während ich doch wusste, einerseits durch meine eigene berufliche Tätigkeit, andererseits durch die Befassung gerade mit der Literatur Werner Koflers, dass sowohl das Verfassen von als auch die Befassung mit Literatur, und zwar auch von und mit großer und größter Literatur vollkommen sinnlos ist, VOLLKOMMEN SINNLOS, so, dachte ich, würde ich beginnen und würde als Beleg eine Stelle aus Werner Koflers Am Schreibtisch zitieren: "Kunst muss die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr unterwerfen, auch was das Schreiben anlangt ... Aber das Entsetzliche, müssen Sie wissen, das Entsetzliche ist: Die Wirklichkeit macht ungeniert weiter, die Wirklichkeit schert sich keinen Deut um die Zerstörung, die ihr die Kunst zugefügt hat, die Wirklichkeit ist schamlos, schamlos und unverbesserlich ..."

Und sofort, kaum dass ich in meinen Gedanken zu Ende zitiert hatte, dachte ich, nein, so werde ich keinesfalls beginnen, ich werde keinesfalls die Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt deprimieren, schließlich sind sie in Kärnten und noch dazu jetzt in Kärnten und jetzt in Klagenfurt und daher auf jeden Funken Hoffnung angewiesen. Niemand kann ja wissen, dachte ich, wie es mit diesem durch betrügerische Machenschaften an den Rand des Ruins getriebenen Bundesland weitergeht, was in diesem Monat März, in dem ich mich in Ungarn aufzuhalten verpflichtet habe, dem Land meiner Herkunft noch widerfährt, vielleicht, dachte ich, kann die Poetikvorlesung an der Universität Klagenfurt gar nicht stattfinden, weil die Universität Klagenfurt inzwischen versteigert und die gesamte geisteswissenschaftliche Lehre und Forschung als etwas vollkommen Sinnloses abgeschafft worden ist.

Verschwiegenes bestimmt Gegenwart

Zwar, so könnte ich, dachte ich, falls denn die Poetikvorlesung doch stattfände, beginnen, liegen die Verbrechen, die dazu geführt haben, dass diese Poetikvorlesung nicht stattfinden kann, schon Jahre zurück, zwar ist der Grundstein für das, worunter das Land jetzt zu leiden hat, dieser Großbetrug einer Bande von Gierhälsen, die von einer verblendeten Wählerschaft, die als solche und nicht als selbstsüchtiges, vernageltes, jeder Vernunft sich verschlossen habendes Wählergesindel zu bezeichnen mir schwerfällt, zwar nicht zu diesen Verbrechen legitimiert, aber doch mit einer Macht ausgestattet worden ist, die ihr diese Verbrechen ermöglicht hat, zu einer Zeit gelegt worden, als die meisten der Hörerinnen und Hörer dieser Poetikvorlesung noch Kinder und daher vollkommen unschuldig waren, aber, so, dachte ich, würde ich beginnen, nichts von dem, was jetzt ist, hat auch jetzt begonnen, immer ist es das scheinbar Vergangene, das die Gegenwart bestimmt, das Unbemerkte, Verheimlichte, Verschwiegene.

Große Literatur, würde ich fortfahren, ist sich dieser Tatsache immer bewusst, in großer Literatur kann man aber auch, gerade weil in ihr das damals scheinbar bereits Vergangene immer präsent ist, genügend Hinweise finden auf das damals erst Bevorstehende, also auf das, was jetzt ist, aber unglückseligerweise ist das damals nicht bemerkt beziehungsweise, falls es bemerkt worden ist, nicht ernstgenommen worden, weil die Befassung mit Literatur, auch und gerade mit großer und größter Literatur, so notwendig sie einerseits wäre, andererseits, wie jedem, der sich ernsthaft mit Literatur befasst, aus dieser Befassung heraus klar sein muss, vollkommen sinnlos ist, VOLLKOMMEN SINNLOS, so würde ich beginnen und würde als Beleg eine Stelle aus Werner Koflers Am Schreibtisch zitieren: "Kunst muss die Wirklichkeit zerstören, so ist" –

Poetik und Pécs

Verflucht, dachte ich, nun bin ich wieder dort, wo ich nicht hinwollte, so darf ich keinesfalls beginnen, und ich beschloss, für diesen Tag meine Arbeit an der Poetikvorlesung zu beenden und ging also zurück zu meiner Unterkunft, hin und wieder kleine Umwege nehmend, vorbei an Fassaden alter Häuser, von denen manche tatsächlich nur noch Fassaden waren, mit Holzpfeilern abgestützt, erhalten, als Teil eines Stadtbilds, Kulturhauptstadtbilds, zur Vortäuschung eines längst nicht mehr haltbaren Zustands.

Dennoch, dachte ich, was für eine freundliche Stadt, dieses Pécs, an fast allen Häusern, an denen ich vorbeikam, waren Schilder angebracht mit der Aufschrift ELADÓ! oder seltener KIADÓ!, was ich als Begrüßungsformeln deutete und mir ins Kärntnerische ungefähr mit "Hallo!" oder "Griaß di!" oder " Urlaub bei Freunden!" übersetzte. Als ich allerdings später im Wörterbuch nachschlug, stellte sich heraus, dass es sich nicht um Willkommensgrüße handelte, sondern dass die Aufschriften besagten, dass die jeweiligen Gebäude zu verkaufen bzw. zu vermieten seien. Niemand jedoch schien Interesse an ihnen zu haben, wollte hier wohnen, die wenigsten der jungen Menschen, dachte ich, die jetzt die Straßen bevölkerten, würden bleiben, fast alle würden so bald wie möglich Pécs verlassen und nach Budapest oder ins Ausland gehen, genauso wie die jungen Menschen in Kärnten immer schon so bald wie möglich Kärnten verlassen hatten und in Hinkunft in noch stärkerem Maß verlassen würden.

Seltsam, dachte ich in der darauffolgenden Nacht, meiner ersten Nacht in Pécs, selbst wenn ich versuchte, mich nur auf diese Stadt zu konzentrieren und darüber hinaus höchstens noch an das diese Stadt umgebende Ungarn zu denken, kehrten meine Gedanken sofort wieder zu Kärnten und den Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt und damit zur Poetikvorlesung zurück, und ich beschloss daher, am nächsten Tag bereits frühmorgens einen neuen Anlauf zu nehmen.

Die Literatur Werner Koflers

Ich würde es, dachte ich, kaum dass ich meine Unterkunft verlassen hatte, vollkommen anders machen, ich würde, um die Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt auf die Literatur Werner Koflers einzustimmen, mit einem anderen Zitat beginnen, einem Kärnten lobenden Zitat, aus Der Hirt auf dem Felsen, wo es, angesichts eines Vergleichs der Landesverfassungen von Kärnten und Tirol heißt: "Artikel eins der tirolischen (...) ermahnt zur Gottesfurcht, was in Kärnten, einem Land der Selbstmörder und der ledigen Kinder, ein aussichtsloses Unterfangen wäre; Sie machen sich keinen Begriff, was da zusammengetupft, zusammengeschottert, zusammengetschumpert wird, grandios, tschumpern, coire, tschumpra, auch tritschumpra, Vulva, habe ich herausgefunden ... Nein nein, Kärnten ist nicht nur die nationalsozialistisch-freiheitliche Kloake, wie es im Augenblick den Anschein haben mag ...", so Kofler in Der Hirt auf dem Felsen, 1991 wohlgemerkt.

Nur wenige Seiten vorher, so würde ich, dachte ich, fortsetzen, wird in demselben Buch eine Ansprache des "künftigen Landesverwesers" beschrieben, die er "vom Gipfel des Großelendskopfes" herab an die umgebenden Gebirgsmassen hält, "er begrüßt gerade die rundherum versammelten Gruppen, die Köpfe und Spitzen der Schobergruppe, der Goldberggruppe, der Venedigergruppe, der Haffnergruppe, hören Sie nur, er verspricht, jede Gruppe gegen Ansprüche einer anderen zu verteidigen (...), welche Mühe, er bedient sich einer oberösterreichischen Kunstsprache, hören Sie, wie er brüllt (...) Die Freiheit ist ein kostbares Gut, Das Licht ist eine feine Sache, hören Sie, Der Preis des Korbes ist zu hoch – wie wenn er sich die Seele aus dem Leibe schreien wollte ... Die Höhe ist höher als die Tiefe, daran ist kein Zweifel, hören Sie? Kein Zweifel aber auch: Die Tiefe ist tiefer als die Höhe! (... ) Ich wiederhole, hören Sie, der Preis des Korbes ist zu hoch, er brüllt, dass es bis ins Oberösterreichische hinein zu hören ist. (...) Unser Bischof heißt Egon Kapellari, Unsere Landeshauptstadt heißt Klagenfurt, Heimatkunde ist die Lehre von der Heimat, wie er anbrüllt gegen die Mächte der Finsternis, In den Bergen haben viele schon ihr Leben gelassen, hören Sie, Die Frankfurter Schule ist eine schlechte Schule, Blau ist eine schöne Farbe, Die Farbe der Pfeife ist Braun."

Kunst als Zerstörerin

Inzwischen schon in der Ferencesek utcája angekommen und weiter westwärts, aus der Altstadt hinausgehend, erschöpft von dem doch langen, anstrengenden Zitat, dachte ich, ich würde den Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt gegenüber fortfahren, dass, wie man sehe, bei genauer Lektüre und kundiger Exegese der betreffenden Textstelle schon im Jahr 1991 vollkommen klar zu Tage gelegen wäre, was dem Land Kärnten, falls die verblendete Wählerschaft nicht rechtzeitig zur Vernunft käme oder gebracht werden könnte, bevorstehen würde, aber natürlich habe das niemand beherzigt und versucht, in dieser Hinsicht auf die Realität einzuwirken, weil jeder, vor allem jeder denkende und darum mit Literatur sich befassende Mensch wisse, dass die Befassung mit Literatur vollkommen sinnlos sei, VOLLKOMMEN SINNLOS, wie auch aus einer Textstelle in einem anderen Prosatext Werner Koflers, Am Schreibtisch, hervorgehe: "Kunst muss die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr" –

Es war zum Auswachsen! Außer mir vor Wut, wieder in derselben Denksackgasse gelandet zu sein, warf ich den Rest der Pizzaschnitte, die ich mir wenige Minuten vorher als Marschverpflegung gekauft hatte, gegen ein Schild mit der Aufschrift "Eladó!", was von mehreren Passanten mit vorwurfsvollen Blicken und Kopfschütteln quittiert wurde. Andere aber reagierten zu meiner Überraschung mit einem zustimmenden Nicken, ein junges Paar begann sogar zu applaudieren, dennoch machte ich, dass ich fortkam aus dem Gesichtsfeld dieser Zeugen meiner Unbeherrschtheit, und eilte, den Blick gesenkt, weiter stadtauswärts.

"Eladó! Kiadó!"

Die Passantendichte wurde geringer, ich hatte die Fußgängerzone verlassen, und obwohl ich nun von weniger Menschen umgeben war als vorher, war um mich ein lauter werdendes Stimmengewirr, dessen Ursprung ich nicht ausmachen konnte, auch nicht, als ich wieder wagte, den Blick zu heben. Ich befand mich in einer Wohngegend, mehrstöckige Häuserblocks standen zur Linken und Rechten der Straße, dazwischen ein kleines Einkaufszentrum. Nur vereinzelt gingen Menschen an mir vorbei, meist schweigend oder in Zwiegespräche vertieft, und doch hörte ich deutlich einen vielstimmigen Chor, der ununterbrochen die Worte "Eladó! Kiadó!" wiederholte. Vereinzelt erhoben sich Solostimmen aus dem Ostinato, in mir unverständlichen Sprachen, Ungarisch wohl in der Hauptsache, aber es schienen auch slawische, ja sogar afrikanische und asiatische Stimmen vertreten zu sein, murmelnd manche, andere wie irr lachend, wieder andere wie in Panik schreiend.

Ich sah mich um nach den Urhebern, aber es waren keine zu entdecken, überall nur einander ähnliche Wohnbauten, niemand auf den Balkonen, die Fenster geschlossen. Das "Eladó! Kiadó!" aber war weiter zu hören, und ich konnte nun auch deutsche Sprachbrocken unterscheiden, mir wohlbekannte, wenn auch rätselhafte Worte, "Nothung, Nothung / Input Output... Knochenmühle, Pulvermühle / Schornstein, Industrie!", drang es beharrlich an mein Ohr, Worte aus Werner Koflers Prosastück Verdeckte Selbstbeobachtung, und ich drehte mich einmal um die eigene Achse, um endlich die Urheber zu entdecken, und stand plötzlich vor einem riesenhaften Gebäude, das ich beim Näherkommen nicht bemerkt hatte, einem fünfundzwanzigstöckigen Hochhaus, heruntergekommen, mit leeren Fensterhöhlen, abbröckelnden Balkonen, offensichtlich unbewohnt.

Das "tote Hochhaus"

Es musste sich, schoss es mir durch den Kopf, um das sagenhafte "tote Hochhaus" handeln, von dem mir bereits in Österreich vor meiner Abreise ein Schriftstellerkollege erzählt hatte, ein, wie er erklärt hatte, 1974 errichtetes, für die Bautätigkeit des kommunistischen Regimes typisches Gebäude, dessen Bewohner 1989 evakuiert und umgesiedelt hätten werden müssen, weil es einsturzgefährdet gewesen sei – das Haus, nicht das Regime, dieses allerdings auch -, und das seither leerstehe, irreparabel, aber auch, der enormen Kosten wegen, dem Abriss durch Sprengung sich widersetzend. Von dort schienen die Stimmen zu kommen, und ich umkreiste daher das Gebäude, das von einem Bauzaun umgeben war, um Gewissheit zu haben, aber niemand war zu sehen, es war, als würden diese Stimmen von meinem Gehirn produziert, als habe die intensive Befassung mit der Literatur Werner Koflers eine Gehörshalluzination hervorgerufen. Tatsächlich mehrten sich nun Zitate aus seinen Texten, "er habe zwar keine Napola besucht, sei aber immerhin 'hochgradiger Hitlerjunge' gewesen, hat der Herr Landeshauptmann gesagt", hörte ich zum Beispiel – Guggile, 1975 -, dann wieder – Tanzcafé Treblinka, 2001 – "Wannseekonferenz – Beachvolleyball! Endlösung – Beachvolleyball! Sonderkommando – Beachvolleyball! Sonderbehandlung – Beachvolleyball! Aktion Reinhard – Beachvolleyball!", eingebettet in den Chor "Eladó! Kiadó!", bis schließlich über einem ständig wiederholten "Nichts, nein! Nichts, nie gehört! Nicht bekannt! Nichts bekannt, nichts gewusst!" – ebenfalls Tanzcafé Treblinka, 2001 – wieder andere, klagende Stimmen sich erhoben, arabische und afrikanische Sprachen meinte ich hauptsächlich zu erkennen, vermischt mit südslawischen Gesängen.

Dass es sich dabei zweifellos um wirkliche, menschliche Sprachen handelte, die in der vorgetragenen Form von großer klanglicher Schönheit waren, bestärkte mich in der Annahme, dass diese Stimmen doch keine Halluzination waren, sondern tatsächlich existierten. Dennoch verbot ich mir, Nachschau zu halten, denn ich konnte dieses Stimmengewirr nicht mehr ertragen, es würde, dachte ich, wenn ich mich nicht entzog, meinen Kopf zum Platzen bringen, und ergriff die Flucht, bog in die nächstbeste Seitengasse und war, als ich mich wieder umwandte, höchst verwundert, dass von dem Hochhaus, das die anderen Gebäude im Umkreis doch um ein Vielfaches überragen musste, nichts mehr zu sehen war.

Die Stadt zu Füßen

Stunden später und benebelt von mehreren Gläsern Rotwein, die ich in einer düsteren Weinstube hinuntergestürzt hatte, wieder in meinem Quartier angekommen, warf ich mich aufs Bett, schlief sofort ein und schlief traumlos bis zum nächsten Morgen. Nach dem Frühstück ging ich, in der Hoffnung, mich so von den Erlebnissen des Vortags abzulenken, in ein Tourismusbüro und erkundigte mich, ob es möglich wäre, für einen Tag einen Fremdenführer zu engagieren, der mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zeigen könnte.

Augenblicklich erschien aus einem Nebenraum eine junge Frau, die offenbar nur auf ein solches Angebot gewartet hatte, nahm Mantel und Schirm – es regnete nicht, aber als Fremdenführerin war sie wohl gewohnt, immer einen Schirm dabeizuhaben – und führte mich hinaus, dabei sofort in akzentfreiem Deutsch mich überschüttend mit historischen Fakten, Jahreszahlen, Herrschernamen, die alle zu behalten unmöglich gewesen wäre und die ich auch gar nicht zu behalten versuchte. Dennoch war ich mit meiner Entscheidung zufrieden, in kürzester Zeit zeigte mir die Fremdenführerin verfallene und renovierte Prachtbauten, versunkene und noch bestehende Industrien, führte mich durch Katakomben und Museen und zum Abschluss – wir wollen uns nun die Stadt zu Füßen legen, sagte sie – auf einen Hügel, von dem aus man tatsächlich fast ganz Pécs überblicken konnte.

Ich bedankte mich bei ihr, legte zum vereinbarten Lohn ein großzügiges Trinkgeld und bat sie nur noch, bevor ich sie entließ, mir zu zeigen, wo genau sich das tote Hochhaus befinde, das ich seltsamerweise, wie ich sagte, von hier aus nicht sehen könne. Die Fremdenführerin blickte mich verwundert an. Totes Hochhaus, murmelte sie, totes Hochhaus, totes Hochhaus ... Nein, davon wisse sie nichts, von einem toten Hochhaus habe sie noch nie gehört. Aber ich bin doch gestern daran vorbeigekommen, rief ich, es liegt nicht weit von der Altstadt, ein fünfundzwanzigstöckiges, leerstehendes Gebäude, das müssen Sie doch kennen! Die Fremdenführerin schüttelte den Kopf.

Österreichische Pécs-Geschichten

Es gebe in ganz Pécs kein so hohes Gebäude, sagte sie, aber ... Ja, jetzt falle es ihr wieder ein, schon einmal sei sie danach gefragt worden, vor einem Jahr etwa, auch von einem Österreicher. In Österreich scheinen wunderliche Geschichten zu kursieren über Pécs, sagte sie, vor einiger Zeit sei ihr beispielsweise von einem wieder anderen Österreicher erzählt worden, dass die Stadt den Umstand, im Zweiten Weltkrieg nahezu unversehrt geblieben zu sein, einzig einem amerikanischen, aus Pécs stammenden Fliegeroffizier verdanke, der seine frühere Heimat rechtzeitig von den den Luftangriffen zugrunde liegenden Landkarten getilgt habe.

Eine völlig irrwitzige, zweifellos erfundene Geschichte, wie ich ihr gewiss bestätigen würde, sagte die Fremdenführerin, aber selbst die erscheine ihr noch glaubwürdig, verglichen mit der Behauptung, dass in Pécs ein totes Hochhaus existiere, ein fünfundzwanzigstöckiges, seit Jahrzehnten leerstehendes und dennoch nicht abgerissenes Gebäude. Aber falls ich mich mit dieser Auskunft nicht zufrieden geben wolle, sagte sie, könne ich ja den Führer fragen, der Führer sei ein Fachmann für Stadtgeschichte und kenne Pécs wie kein zweiter. Seinen richtigen Namen wisse sie nicht, er werde von allen nur Führer genannt, weniger weil er Donauschwabe sei, als weil er behaupte, in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Museum der Deutschen Geschichte in Berlin als Kustos tätig gewesen zu sein, ja sogar als solcher in die Literatur eingegangen, von einem Autor namens Kogler oder Kofler in einem Prosawerk porträtiert worden zu sein.

Durch diese Mitteilung in höchste Aufregung versetzt, bat ich die Fremdenführerin, mir zu sagen, wo ich diesen Führer finden könne, weil ich unbedingt mit ihm sprechen wolle, nicht des toten Hochhauses wegen, sondern weil ich – was für ein Zufall!, rief ich aus – in wenigen Wochen eine Poetikvorlesung abzuhalten hätte, in deren Mittelpunkt genau dieser Autor Kofler, nicht Kogler, Kofler stehen werde.

Kofler statt Kogler

Nun, das sei nicht ganz einfach, sagte die Fremdenführerin, der Führer habe keinen festen Wohnsitz, er halte sich meist in altdeutschen Gasthäusern oder auf Bänken in der Gegend rund um das Lenau-Haus auf, ich müsse dort nach allein sitzenden Männern Ausschau halten und zu diesen Männern hingehen und die Worte sagen: "Lieblos und ohne Gott! der Weg ist schaurig", und wenn ich die Antwort erhielte: "Der Zugwind in den Gassen kalt; und du?", so hätte ich den Führer gefunden.

Außer mir vor Freude, hier in Pécs möglicherweise auf eine Person zu stoßen, die für eine Figur aus der Prosa Werner Koflers als Vorbild gedient hatte, ließ ich die Fremdenführerin stehen und eilte den Hügel hinunter zum Lenau-Haus und sprach mehrere Männer an, die ich in dessen Umgebung auf Bänken sitzend vorfand, aber keiner schien einer anderen Sprache als der ungarischen mächtig. Ich wollte schon aufgeben und ließ mich, erschöpft, ebenfalls auf eine der Bänke sinken, da legte mir jemand die Hand auf die Schulter und sagte: "Seid Ihr es, Bruder Eichmann?" Sofort erkannte ich das Zitat aus Verdeckte Selbstbeobachtung und gab geistesgegenwärtig zurück: "Ich bin es, Pater Fleischmann" – hätte ich gesagt, ich bin es, Bruder Baum, ich wäre wohl verloren gewesen -, woraufhin der Unbekannte sich neben mich setzte und sich nicht weiter um mich kümmerte. Nach langem Schweigen flüsterte ich ihm zu: "Lieblos und ohne Gott; der Weg ist schaurig", und erhielt die Antwort: "Der Zugwind in den Gassen kalt; und du?"

Vernichtungslager-Installationen

Tatsächlich, ich hatte den Führer gefunden. Höflich fragte ich ihn, ob ich ihm einige Fragen stellen dürfe, und er bejahte, ich könne ihn alles fragen, und tatsächlich gab er mir bereitwillig Auskunft, erzählte von seinen Jahren in Berlin, im Museum der Deutschen Geschichte, ein großartiges Projekt, sagte er, vor allem die Vernichtungslager, die Vernichtungslager als Raum-im-Raum-Installationen, auch die aus Marzipan und verwandten Materialien gefertigten lebensgroßen Nachbildungen der Leichen, ein Meisterwerk! Die Faszination des Schreckens begehbar gemacht, rief er aus, großartig!

Er erzählte alles genau so, wie es von Werner Kofler in Am Schreibtisch beschrieben worden war, und ich sagte, als er seine Erzählung beendet hatte, es überrasche mich doch, dass dieses Museum tatsächlich existiere, hätte ich es doch für eine literarische Erfindung gehalten. Der Führer lachte. Natürlich sei dieses Museum Erfindung, sagte er, aber es sei genauso Wirklichkeit, und sei es nicht jetzt Wirklichkeit, so werde es vielleicht später Wirklichkeit sein, genauso wie ja auch er selbst sowohl Erfindung als auch Wirklichkeit sei, schließlich stünde er sowohl jetzt wirklich vor mir, wie er später als fiktive Figur in meiner Klagenfurter Poetikvorlesung stehen werde, und sei nicht auch ich selbst sowohl Wirklichkeit als auch Erfindung, fügte er hinzu, spräche ich nicht ebenso wirklich zu den Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt und träte zugleich als fiktiver Erzähler einer übrigens ziemlich abenteuerlichen, in Pécs spielenden Geschichte auf, in der es um ein totes Hochhaus gehe?

Das Kreuz in der Nuss

Ja ja, rief er, die Fremdenführerin hat mich auf Ihren Besuch vorbereitet! In Pécs ein totes Hochhaus, ein fünfundzwanzigstöckiges, seit Jahrzehnten leerstehendes und dennoch nicht abgerissenes Gebäude, sei es nicht so, hätte ich das etwa nicht behauptet? Etwas Unverschämteres habe man wohl noch nie gehört, eine Ungeheuerlichkeit sei das, eine, wie der Schriftsteller Kogler oder Kofler es ausgedrückt hätte, Impertinenz sondergleichen! Ein solches Haus gebe es hier nicht, rief er, immer mehr in Zorn geratend, er rate mir, nie wieder so etwas zu behaupten, sonst werde er zu anderen Mitteln greifen und mir verraten, was das Kreuz in der Nuss bedeute, und dann gnade mir Gott!

Die letzten Worte hörte ich ihn nur noch aus der Entfernung mir nachrufen, denn gleich zu Beginn seines Wutausbruchs hatte ich die Flucht ergriffen und lief nun weiter, nur fort, fort von diesem Ungeheuer, und bemerkte erst nach einiger Zeit, dass meine Füße wie von selbst einen Weg eingeschlagen hatten, den ich schon einmal gegangen war, stadtauswärts, dorthin, wo ich am Vortag das tote Hochhaus gesehen hatte.

Hinein ins Literaturhaus

Und tatsächlich hörte ich auch diesmal das Stimmengewirr, "Eladó! Kiadó!", immer lauter, immer lauter, und ein zweiter Chor fiel ein, "Nichts, nein! Nichts, nie gehört! Nicht bekannt! Nichts bekannt, nichts gewusst!", und aus den beiden Chören erhob sich wieder eine einzelne Stimme, Ungarisch diesmal, aber sie wurde simultan übersetzt, "sehen Sie hier den Verweser des Landes", rief sie, "einer Eiche gleich steht er in der Ebene und spricht zu den Weiden und Seen, hören Sie, wie er brüllt? Die Freiheit ist ein kostbares Gut, Das Licht ist eine feine Sache, hören Sie, Der Preis des Korbes ist zu hoch – wie wenn er sich die Seele aus dem Leibe schreien wollte ... Die Höhe ist höher als die Tiefe, daran ist kein Zweifel, hören Sie? Kein Zweifel aber auch: Die Tiefe ist tiefer als die Höhe! Wenn es kein Böses gäbe, wie könnte das Gute dann die Oberhand gewinnen? Ich wiederhole, hören Sie, der Preis des Korbes ist zu hoch, er brüllt, dass es bis nach Rumänien hinein zu hören ist ... Unser König ist der heilige Stephan, Unsere Hauptstadt heißt Budapest, Heimatkunde ist die Lehre von der Heimat, wie er anbrüllt gegen die Mächte der Finsternis, In den Ebenen haben viele schon ihr Leben gelassen, hören Sie, Das Böse ist gut für das Gute, Unsere Heimat ist überall!"

Und als ich aufschaute, stand vor mir das tote Hochhaus, aber es war nicht mehr tot, der Bauzaun war verschwunden, kein Hindernis verwehrte den Eintritt, und freudig trat ich ein, und ich würde, dachte ich, die Studentinnen und Studenten der Universität Klagenfurt auffordern, mir zu folgen in dieses Gebäude, das ein Literaturhaus geworden war, wie es in Verdeckte Selbstbeobachtung einmal beschrieben wird, "die Fenster festlich erleuchtet, die Räume bevölkert von Dichtern und Dichterinnen, schreibenden, singenden, sinkenden, speisenden, lärmenden, wild gestikulierenden, Streichquartett oder Führerquartett spielenden, wenn nicht überhaupt der Fleischeslust frönenden Dichtern und Dichterinnen; und dazwischen, im einzigen dunkel gebliebenen Zimmer, im geöffneten Fenster nur am Aufglühen einer Zigarette erkennbar" – – – (Antonio Fian, 11.7.2015)