Es hat 37 Grad, manche halten sich an den Wurzeln der Sträucher fest, um den steilen Waldhang hinaufzuklettern. Vielen ist das Wasser ausgegangen. Sie laufen, als sie den Wassertank am Waldweg sehen, um ihr Gesicht unter den Strahl zu halten. "Aber dieses Wasser und dass wir Wanderschuhe haben, das ist ja reiner Luxus", sagt die 30-jährige Vesna M. "Erst wenn man diesen Weg geht, kann man nachvollziehen, wie es für die Fliehenden damals viele Tage lang gewesen sein mag."

Bild nicht mehr verfügbar.

In Potocari liegen die Überreste von tausenden Opfern des Genozids begraben. Auch heuer, 20 Jahre danach, werden noch 136 begraben.
Foto: REUTERS/Dado Ruvic

Der Friedensmarsch ist ein Versuch in Mitgefühl und Solidarität. Seit Mittwochfrüh sind, wie jedes Jahr, tausende Menschen auf jener Route zwischen Nezuk und Potocari unterwegs, auf der im Juli 1995 – nur in umgekehrter Richtung – etwa 10.000 Bosniaken versuchten, in die von der bosnischen Armee kontrollierten Gebiete zu flüchten. Sie wurden gejagt von bosnisch-serbischen Soldaten, die die völlig erschöpften, ausgehungerten, teils verletzten Menschen aus dem Wald heraus erschossen.

8331 bosniakische Opfer

Viele trugen nur mehr Unterwäsche am Leib, manche nahmen sich selbst das Leben, einige schleppten die Toten mit sich, andere wurden verrückt aus Angst und Durst. Wenige kamen erst nach Monaten aus dem Wald. Überlebende berichteten, sie seien mit Chemikalien besprüht worden, die Halluzinationen verursachten. Jene, die durchkamen bis nach Nezuk, nannte man "die Kolonne der Gespenster" – so voller Schrecken waren die Gesichter.

Der größte Teil jener Menschen, die dem Genozid in Ostbosnien im Juli 1995 zum Opfer fielen, waren diese Flüchtenden. Laut dem Forschungs- und Dokumentationszentrum in Sarajevo, das alle Zahlen zusammengetragen hat und ein Totenbuch verfasst hat, wurden nach dem Fall von Srebrenica aus den Gemeinden Srebrenica, Zvornik, Bratunac und Vlasenica 8331 Bosniaken getötet. Unter diesen Opfern waren 1416 Soldaten.

Darunter einige von Vesnas Verwandten, die "den falschen Namen hatten", wie sie sagt, einen muslimischen nämlich. Einige traten auf Minen, die noch heute das Gebiet verseuchen, andere wurden ermordet. Ein Cousin wurde in ein Lager nach Serbien gebracht und später einfach in ein Flugzeug in die USA gesetzt. Er war damals 15 und völlig allein. Bis heute lebt er in Phoenix, Arizona. Er hat nie mehr über den Juli 1995, die Toten, den Durst, die Angst gesprochen.

Im Sommer 1995 wendete sich der Krieg gegen die bosnisch-serbischen Truppen, sie waren in der Defensive, während die Armee von Bosnien-Herzegowina immer effektiver wurde, erklärt der britische Historiker Marko Attila Hoare. Für die bosnisch-serbische Seite sei "die totale Zerstörung" von kampffähigen bosniakischen Männern "aus militärischen Gründen immer wichtiger" geworden. "Dies führte zu dem Massaker." Der Versuch, die Bosniaken als Gruppe in Ostbosnien zu zerstören, habe aber bereits 1992 begonnen. "Der Juli 1995 war lediglich die Kulmination dieses Prozesses", sagt Hoare zum STANDARD.

Bild nicht mehr verfügbar.

Friedensmarsch 2015 – 20 Jahre nach den Verbrechen von Srebrenica.
Foto: REUTERS/Antonio Bronic

Auf dem Friedensmarsch kommt man an Massengräbern vorbei. Die Leichen wurden nochmals ausgegraben und woanders verscharrt, um den Genozid zu vertuschen. Einige Ausländer gehen den Drei-Tages-Marsch mit. Eine französische Esperanto-Lehrerin etwa, die möchte, dass sich alle versöhnen, obwohl das nicht das Thema ist. Für viele junge Bosniaken ist der Friedensmarsch identitätsstiftend geworden. Eine Gruppe in der Mitte der Kolonne ruft immer wieder "Allahu akbar".

"Wir vergessen nicht"

Manche kommen, weil die Opfer Muslime waren. Eine Türkin trägt die palästinensische Flagge am Rücken. Aber auch die EU-Flagge und die Regenbogenfahne sind zu sehen. "Die Motive sind ganz unterschiedlich", sagt der 19-jährige Adnan. Er geht mit, weil er an die Opfer erinnern will, die seine Landsleute sind. "Wir vergessen nicht, auch wenn die Serben sagen, dass alles eine Lüge ist." Ob hier bosnische Serben mitgehen? "Nein", sagt er, "aber Serben aus Serbien." Der Marsch durch die Republika Srpska ist auch eine Manifestation gegen die Leugnung des Völkermords.

Die meisten Hinterbliebenen des Genozids, also die Frauen, leben heute in Vogosca, einem Vorort von Sarajevo. Die Gemeinde kümmert sich. Andere wurden hingegen ziemlich vergessen. Einige Frauen etwa leben in Spionica in der Nähe von Tuzla in heruntergekommenen Baracken eines Flüchtlingslagers. Sie haben ihre Männer, Söhne, Väter, Brüder, ihre Häuser, ihre Arbeit verloren. Seit 20 Jahren leben sie in einem Provisorium.

Foto: Adelheid Woelf

Die Frauen sitzen in Pluderhosen im Gras vor den Baracken. "Ich habe 325 Mark im Monat und kann den Strom nicht zahlen", ruft die eine, eine Zweite sagt: "Ich würde ja mein Grundstück in Srebrenica verkaufen, aber wer will das schon?", eine Dritte meint: "Ich habe keine Söhne mehr, hinter mir ist nur noch der Tod. Aber selbst jene mit Kindern haben keine Zukunft, denn die haben keine Arbeit."

Mit der Zeit rufen die Frauen alle durcheinander, die Stimmen fügen sich zu einem Konzert des Zorns. Dzevahira Ahmetovic, 58, wünscht sich nur "ein Stockwerk von einem Haus", damit sie raus kann aus dem Lager. Kommt sie am Samstag nach Potocari? "Ich kann nicht", sagt sie. "Ich kann nicht mehr diesen endlosen Hügel mit den weißen Grabsteinen sehen." Die Frauen von Spionica senken den Blick auf das Gras. Das Konzert des Zorns ist verstummt.

Nur 14 Verurteilungen

Bisher wurden 14 Personen wegen des Genozids vom Jugoslawien-Tribunal verurteilt, die Prozesse gegen den politisch Verantwortlichen Radovan Karadzic und den Kommandanten Ratko Mladic laufen noch. "Das Gericht hat die Verbrechen nicht effektiv verhandelt", meint Hoare. "Kein einziger Amtsträger oder Soldat aus Serbien/Belgrad wurde wegen Srebrenica oder anderer Kriegsverbrechen in Bosnien bestraft." (Adelheid Wölfl, 11.7.2015)