Aus der Serie "Sunday Sketches" stammt diese Arbeit des deutschen Illustrators Christoph Niemann.

Illustration: Christoph Niemann

Der Illustrator Christoph Niemann, hier in seinem Berliner Studio, lässt sich bei seinen Arbeiten von Weltthemen ebenso inspirieren wie vom Kampf um die Armlehne im Flugzeug oder vom Einsatz Friedrichs II. für die Kartoffel.

Foto: Gene Clover

Hier ist eines der vielen Covers für den "New Yorker" zu sehen.

Illustration: Christoph Niemann

Christoph Niemann steht vor einer Vitrine im Wiener Museum für angewandte Kunst. Er ist großgewachsen, trägt ein dunkles Hemd, dunkle Jeans und Turnschuhe. Die sind schwarz. Auf seiner Nase über dem Stoppelbart sitzt eine braune Hornbrille. Niemann redet viel, und es macht den Eindruck, als würde er das gern tun. Nicht nur das. Er scheint überhaupt Spaß an der Arbeit zu haben.

In dem gläsernen Kasten vor ihm sind seine Covers für das Magazin "The New Yorker" zu sehen. Auf einem verwandelt sich in vier Schritten ein rosa Blatt Papier zu einer echten Rose. "Mir gefällt das Tänzeln zwischen Abstraktion und Realismus. Im Prinzip möchte ich im Betrachter eine Geschichte wachkitzeln, die schon in ihm schlummert. Ich lege nur einen kleinen Schalter um", sagt Niemann, den die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" als "besten Illustrator unserer Zeit" bezeichnet. Im Falle der Rose spielt Niemann damit, die Blume so darzustellen, als wäre sie eine menschliche Kreation. Wo beginnt das Design und wo die Natur? Diese Frage ist so ein Schalter, den Niemann umlegt.

Der Fotograf mit dem Tintenfass gehört zu Niemanns Serie "Sunday Sketches".
Illustration: Christoph Niemann

Ein Stückchen weiter ist das Cover zu sehen, das nach der Fukushima-Katastrophe auf dem "New Yorker" erschien. Statt Kirschblüten sprießen an einem Baum die grafischen Symbole für Radioaktivität, aber nicht im üblichen Gelb, sondern im zarten Rosa der Kirschblüten. "Ist es nicht faszinierend, dass alles, was mit radioaktiven Katastrophen zusammenhängt, so still geschieht. Zumindest bekommt man diesen Eindruck. Auch in einem japanischen Kirschgarten herrscht eine ganz eigene Stille und Poetik", erklärt der Deutsche das hübsch anzusehende und doch verstörende Bild.

Geschenk für Obama

In die Riege internationaler Topgrafiker zeichnete sich der 1970 im deutschen Waiblingen geborene Niemann während seiner New Yorker Zeit zwischen 1997 und 2008. Einen noch größeren Namen machte sich Niemann, der heute in Berlin lebt, mit seinem Sujet "Brooklyn Bridge" aus dem Jahre 2013. Darauf formen, wie bei dem bekannten Kinderspiel, zwei Hände einen Faden zur Brooklyn Bridge. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck schenkte Barack Obama einen Siebdruck davon. "Das war schon aufregend, als das Präsidialamt anrief und die Arbeit bestellte. Ganz uneitel sind wir Grafiker ja nicht", sagt Niemann und grinst übers ganze Gesicht. Ob Obama das Werk aufhängen ließ, weiß Niemann nicht. "Auf dem letzten Bild, das ich vom Oval Office gesehen habe, war es nicht zu sehen. Aber das kann ja noch werden." Da ist er wieder, der Grinser.

Den Siebdruck "Brooklyn Bridge" bekam Barack Obama als Geschenk.
Illustration: Christoph Niemann

Die Ausstellung "Unterm Strich" im Kunstblättersaal des Mak ist lebendig gestaltet und keine sterile Schau, sondern ein optischer Spielplatz für Reflexionen. Dieser vermittelt vortrefflich, was Niemann mit seiner Arbeit sagen will, nämlich nahe am Betrachter sein. Er will Geschichten erzählen, kleine Bilder vom Küchentisch des Mannes von der Straße und große von der Weltpolitik. Das Werkzeug für beides ist dasselbe. Niemann vollbringt dies witzig und ironisch, poetisch und mitunter auch tragisch. Es macht ihm mehr Spaß, mit seinen Bildern einen Denkauslöser zu betätigen, als der Welt zu zeigen, wie gut er zeichnen kann. Er ist Designer, Künstler, Grafiker und Journalist zugleich. In eine Schublade kann man ihn nicht stecken. Will man auch nicht.

Vom Ausflug zum Kinderbuch

Niemann sucht den Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, analysiert die vermeintlichen Unzulänglichkeiten im Alltag der Menschen, auch in seinem eigenen. Inspiriert wird er dabei vom Keksebacken, von einem Badeanzug im Strandurlaub oder vom erbitterten Kampf um die Armlehne im Flugzeug. Aber auch von Finanzkrisen oder dem Grab Friedrichs II. in Potsdam. Dorthin verschlug es ihn im Rahmen eines Familienausflugs. "Dabei wär ich viel lieber daheim sitzen geblieben. Aber es hieß, die Kinder müssen mal raus", erinnert sich der Zeichner. Schließlich rentierte es sich nicht nur für die Sprösslinge, denn der einstige Einsatz des Preußenkönigs für das Nahrungsmittel Kartoffel gab den Anstoß zum Kinderbuch "Der Kartoffelkönig", das er unter anderem mit Kartoffeldrucken illustrierte.

"Toothbrush" ist ein Buchcover.
Illustration: Christoph Niemann

Niemanns Stil scheint beeinflusst von den großen Grafikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ebenso wie von Collagen zeitgenössischer Künstler und einer ganzen Menge dazwischen. Er versprüht eine kindliche Freude, wenn er davon berichtet, wie viel er mit so wenigen Mitteln auslösen kann. Wie lang er an einer Arbeit im Durchschnitt sitzt? "Das kann man so nicht sagen, ich musste ein Blatt auch schon mal in 30 Minuten fertig haben. Andere Projekte geschehen über den Zeitraum eines Jahres. Schwung benötigt jedoch beides."

Anstrengung, Glück und Musenküsse

Wer glaubt, der Grafiker käme bei der Arbeit mit Stift und Papier aus, irrt. Zwischen die Finger kommen ihm Büroklammern, Kleiderbügel, Laub, Teig und Salzstreuer wie auch Radiergummi und Bleistiftstummel. Seit 2008 schreibt und illustriert er ferner den Blog "Abstract City" der "New York Times", seine experimentelle Bildserie "Sunday Sketches" auf Instagram versammelt mittlerweile eine stattliche Fangemeinde, und auf seiner App "Petting Zoo" werden Tiere durch Berührung zum Leben erweckt.

Es ist ein weiter Bogen, den Niemann über seine Betrachter spannt. Die Rezeptur, nach der dies geschieht, beschrieb der Vater dreier Söhne in Form eines Tortendiagramms: "87 Prozent Anstrengung, 7,5 Prozent Glück, 0,5 Prozent Begabung und Musenküsse und fünf Prozent ,90 Minuten am Stück die Finger vom Internet lassen!'" Klingt preußisch präzis, kommt aber äußert lässig rüber. Anders formuliert er es folgendermaßen: "Es ist wie ein Buchsbaum, an dem ich so lange rumschnippsle, bis die drei Ästchen übrig bleiben, die das 'Aha' ausmachen."

Die Baseball-Avocado stammt ebenfalls aus der Serie "Sunday Sketches".
Illustration: Christoph Niemann

Inzwischen hat Niemann in der altehrwürdigen Bibliothek des Museums Platz genommen, unter dessen großem Dach im Laufe seiner 150-jährigen Geschichte auch eine ganze Menge Plakate gezeigt wurden. Der dunkle Holzboden unter den Füßen des Grafikers knarrt einzigartig gut. Auf die Frage, wie sich die Zunft der Grafik in Zeiten omnipräsenter digitaler Techniken, in denen das Plakat als Stadtkommunikator so gut wie in Pension geschickt wurde, auswirkt, hat Niemann einiges an Antworten parat. "Es sind einerseits die Werkzeuge, die sich verändert haben. Wenn ich heute eine App gestalte, brauch ich dafür lediglich einen Programmierer. Vor 20 Jahren wären daran wahrscheinlich 50 Leute gesessen. Die Demokratisierung geschah also auch im professionellen Bereich. Allein, was wir im Internet für Platz haben. Da gibt es nicht nur dieses eine Blatt Papier." Natürlich ist Niemann in diesem Zusammenhang klar, dass durch Produktionsmöglichkeiten, die heute fast jedem zur Verfügung stehen, auch ordentlich am Ast des Grafikers gesägt wird.

Katzenvideos und Kekse

Hinzu kommt, "dass früher der Designer und sein Auftraggeber entschieden, was das breite Publikum zu sehen bekam". Die Möglichkeiten, diesen Diskurs zu bestimmen, sieht Niemann so gut wie verschwunden. "Klar sind die 'New York Times' oder 'Die Zeit' noch große Medien, und natürlich komme ich dadurch an ein Publikum, das ich selbst kaum anzapfen könnte. Trotzdem war früher die Bühne ungleich größer, und man konnte sich noch eine Zeitlang nach Erscheinen eines Covers gut an dieses erinnern. Nehmen Sie das Medium CD-Cover, das ist mittlerweile ausgelöscht. Heute muss ein Zeitschriftencover in den meisten Fällen auch über Facebook oder Twitter verbreitet werden. Man muss einfach seine Werkzeuge neu kalibrieren", erklärt der Grafiker die Spielregeln.

Prinzipiell sieht Niemann diesen wachsenden Aufwand, an den Mann und die Frau zu kommen, als Chance, auch wenn der direkte Austausch mit dem "Kunden" über die neuen Medien wie soziale Netzwerke eine große Innovationsbereitschaft verlangt. Wichtig erscheint ihm in diesem Zusammenhang, sich nicht von der Zahl der Likes und Klicks anlocken zu lassen. "Was sind gute Likes, was schlechte, was richtig, richtig gute? Nicht, dass ich dieses System schlecht finde, aber ich denke, jeder halbwegs intelligente Medienmacher weiß, dass darauf keine redaktionellen Entscheidungen basieren sollten." Dass der schnelle Lacher auf Facebook befriedigend ist und die Leute gern Katzenvideos anklicken, genügt Niemann nicht. "Lassen Sie es mich so erklären: Wenn ich mir 50 Katzenvideos anschaue, ist es so, als würde ich 50 Kekse essen. Jedes ist irgendwie ganz okay, aber am Schluss ist die Freude auch enden wollend." Anders gesagt: Einen Schalter umgelegt hat noch kaum ein Katzenvideo.

Reist man mit Niemann in eine Zeit ohne Internet zurück, möchte man die Ahnung bestätigt bekommen, dass er bereits als Kind viel gezeichnet hat. "Ja, ich saß mehr oder weniger permanent über einem Blatt Papier. An meine erste Zeichnung kann ich mich nicht erinnern, aber es gibt da eine sehr frühe, auf der ein Indianer ein Haus bewacht und von einem Cowboy angegriffen wird, der auf einem Dinosaurier reitet." Auf die Zukunft seiner Zunft angesprochen, sagt Niemann: "Es wird nicht leichter, eine gute Geschichte zu erzählen. Dabei wird der Bedarf nach solchen immer größer." (Michael Hausenblas, Rondo, 9.7.2015)