"Wir sollten zum Beispiel darüber nachdenken, dass schon jetzt keineswegs zu wenig, sondern viel zu viele Daten gesammelt werden", sagt Reinhard Kreissl.

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Wien – Geheimdienstler in der Datenflut, Polizisten, die den Job von Verfassungsschützern machen: Das geplante österreichische Staatsschutzgesetz löse die Probleme nicht, sagt Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl (63) im STANDARD-Interview. Der Soziologe und Publizist gründete 2015 das Vienna Center for Social Security. Er fordert, eine Debatte darüber zu führen, was man dem Verfassungsschutz erlauben will.

STANDARD: Vor wenigen Tagen wurde das neue österreichische Staatsschutzgesetz im Ministerrat beschlossen; im Herbst soll es ins Parlament kommen. Richter, Rechtsanwälte, Grüne, Neos üben an den geplanten Bestimmungen massive Kritik, vor allem aufgrund eines, wie es heißt, Mangels an öffentlicher Kontrolle. Wie sehen Sie das?

Kreissl: Im Prinzip teile ich die Kritik, denn ich meine, dass jede Art von Datensammeln als Eingriff in persönliche Freiheitsrechte richterlicher Kontrolle unterliegen muss. Dafür zu sorgen gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Parlaments. Die laut Staatsschutzgesetz vorgesehene Kontrolle des Verfassungsschutzes durch den Rechtsschutzbeauftragten ist keine Lösung.

STANDARD: Warum? Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) meint, Beschwerden beim Rechtsschutzbeauftragten seien für ausgespähte Bürger sogar effektiver als bei einem Richter.

Kreissl: Das ist ein vorgeschobenes Argument. Der Rechtsschutzbeauftragte verfügt über viel zu wenig Ressourcen. Und ist es demokratiepolitisch problematisch, einen Rechtsschutz im Innenministerium anzusiedeln, wo auch der Verfassungsschutz ressortiert.

STANDARD: Laut Staatsschutzgesetz sollen die Kompetenzen der Verfassungsschützer, Daten zu sammeln und zu ermitteln, stark ausgeweitet werden. Ist das angesichts der aktuellen Gefährdungslage wirklich nötig?

Kreissl: Ach wissen Sie, die Gefährdungslage, das ist so eine Rhetorik ... Es gibt sie, seit menschliche Gesellschaften existieren. Einmal ist es die Mafia, dann der Terrorismus, dann der Islamismus. Das ist eine Dauererregung. Und es ist der Modus Operandi der Verfassungsschützer, um darzustellen, dass man sie braucht.

STANDARD: Allgemein heißt es, der islamistische Terrorismus sei global vernetzt und nutze die neuesten technischen Möglichkeiten. Muss der Verfassungsschutz da nicht nachziehen?

Kreissl: Betrachten wir es historisch: Der Verfassungsschutz hat immer schon alles ausgespäht, was es auszuspähen gab. Das war in den Tagen der guten alten Post so, in Zeiten des Telefons und des Fax. Jetzt ist der Appetit der Nachrichtendienste auf Daten aus dem Internet und von Handys groß. Er steigt mit neuen technischen Möglichkeiten. Statt uns darüber zu erregen, sollten wir eine Debatte führen: Was wollen wir dem Verfassungsschutz erlauben?

STANDARD: Was sollen wir ihm erlauben?

Kreissl: Wir sollten zum Beispiel darüber nachdenken, dass schon jetzt keineswegs zu wenig, sondern viel zu viele Daten gesammelt werden. Denken Sie an die großen Terroranschläge seit 9/11. Jedes Mal hieß es, die Täter seien im Visier des Verfassungsschutzes gewesen. Es gab also Erkenntnisse, das Problem war nur, mit ihnen richtig umzugehen. Hier weist auch das geplante Staatsschutzgesetz keinen neuen Weg.

STANDARD: Warum?

Kreissl: Weil es den Verfassungsschützern vor allem ermöglicht, an noch mehr Daten zu kommen, was mit Kriminalisierungsgefahren bis hin zu Karikaturisten einhergeht, weil etwa auch gegen eine 'Herabwürdigung staatlicher Symbole' als möglichen 'verfassungsgefährdenden Angriff' eingeschritten werden kann. Dabei geht der Datenhunger der Geheimdienste völlig am Problem vorbei. Vielmehr müsste in die interne Fähigkeit der Apparate investiert werden, mit dem, was die Geheimdienste wissen, sinnvoll umzugehen – etwa durch Schulungen und neue Technik. Ein funktionierender Verfassungsschutz ist ein Frühwarnsystem der Gesellschaft. Die Aufgabe, zuzugreifen, wenn eine Gefahr existiert, kommt anderen zu: der Polizei nämlich.

STANDARD: Polizei und Verfassungsschutz sollen in Österreich aber organisatorisch keineswegs getrennt werden. Vielmehr ressortiert der Verfassungsschutz laut geplantem Gesetz bei der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. Ein falscher Weg?

Kreissl: Ja, denn damit werden Diagnoseerstellung und polizeilicher Zugriff wieder nicht klar unterschieden. Die Polizei behält Zugriffsmöglichkeiten, die über ihre eigentlichen Kompetenzen hinausgehen: Ich möchte, dass die Polizei einschreitet, wenn bei mir eingebrochen wurde -, aber nicht, dass Polizisten, weil es Hinweise gibt, dass in meine Wohnung eingebrochen werden könnte, alle Passanten kontrollieren.

STANDARD: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Kreissl: Österreich könnte sich am Schweizer Modell orientieren. Dort arbeitet der Verfassungsschutz völlig von der Polizei getrennt – ist aber in Austausch mit ihr. Der Nachrichtendienst informiert die Polizei über Diagnosen, zum Beispiel über als gefährlich eingeschätzte Islamisten. Er überantwortet sie der Polizei. Solch klar getrennte Aufgabenstellungen würden auch Österreich guttun. Es wäre eine saubere Lösung, die den Verdacht ausräumt, im Innenministerium würde ohnehin immer nur gemauschelt. (Irene Brickner, 8.7.2015)