Bild nicht mehr verfügbar.

Solidaritätskundgebung in London für Griechenland am Tag vor dem Referendum.

Foto: Reuters/Nicholls

Europa und der Eurozone steht in diesen Tagen mit Griechenland eine Schicksalsentscheidung bevor. Umso mehr würde man erwarten, dass Politiker, Ökonomen und Kommentatoren sich genau überlegen, worum es in diesem Konflikt eigentlich geht. Aber in einem der Hauptpunkte – der Frage eines Schuldenerlasses – werden ökonomische, politische und moralische Argumente ständig durcheinandergebracht.

Der griechische Staat hat eine Schuldenlast von mehr als 300 Milliarden Euro und 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (inzwischen wahrscheinlich mehr, weil das BIP in den vergangenen Wochen weiter gesunken ist). Das ist auf dem Papier für eine mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfende Nation nicht tragbar.

Zinsbelastung ist niedrig

Aber die dramatische Forderung der Regierung von Alexis Tsipras nach einem Schuldenschnitt ist dennoch verfehlt. Denn ein solcher würde dem Land kaum etwas bringen. Die griechischen Schulden wurden seit 2010 mehrfach umgeschuldet, die Zinsbelastung ist jetzt schon vergleichsweise niedrig, und die Rückzahlungen sind auf Jahrzehnte gestreckt.

Es waren nicht die Altschulden, was Griechenland zuerst in eine tiefe Rezession und zuletzt ins wirtschaftliche Chaos gestürzt hat, sondern die laufenden Defizite. Bei Ausbruch der Krise hatte das Land ein untragbar hohes Leistungsbilanzdefizit von mehr als zehn Prozent und ein fast ebenso hohes Primärdefizit – also geringere Einnahmen als Ausgaben noch vor Bedienung von Schulden.

Sparkurs auch bei komplettem Schuldenerlass

Diese Defizite war ab 2010 niemand bereit zu finanzieren, weder private Investoren noch andere Staaten. Deshalb musste Griechenland massiv sparen, Löhne senken und den Konsum einschränken. Das wäre auch bei einem kompletten Schuldenerlass notwendig gewesen.

Erst in der letzten Phase der Regierung Samaras erzielte Griechenland wieder leichte Überschüsse. Der Weg dorthin war vor allem deshalb so schmerzhaft, weil die Exporte trotz massiver Lohnsenkungen nicht gestiegen sind, sondern nur die Importe geschrumpft.

Doch zumindest der Primärüberschuss dürfte nun unter Tsipras wieder verlorengegangen sein. Daher ist eine Fortsetzung des Sparkurses unvermeidbar, egal was mit den Schulden geschieht.

Seltsame Unterstützung von Ökonomen

Dass Tsipras für seine Forderung nach einem Schuldenerlass so viel Unterstützung von führenden Ökonomen, vor allem aus den USA, erhält, ist unverständlich. Ein oft gebrauchtes Argument ist, dass der Schuldenberg Investoren abschreckt. Es gibt Dutzende Gründe, nicht in Griechenland zu investieren; die Staatsschulden sind für Unternehmen sicher nicht der wichtigste.

Aber auch das strikte Nein zu einem Schuldenerlass aus Deutschland und anderen Euroländern ist fragwürdig. Denn alle wissen, dass Griechenland diese Schulden nie zur Gänze zurückzahlen kann.

Es geht ums Prinzip und um moralische Schuld

Hier geht es Merkel, Schäuble und Co mehr ums Prinzip: Ein Schuldenschnitt würde den Vermögenstransfer von den eigenen Steuerzahlern zu den Griechen offiziell machen. Und das wollen alle gegenüber ihren Wählern vermeiden.

Eigentlich dreht sich die ganze Debatte um die moralische Schuld an der griechischen Misere. Das Beharren auf einer Rückzahlung aller Kredite, egal wie weit in der Zukunft, bedeutet, dass sich Griechenland für seine Schulden verantwortlich fühlt.

"Verbrechen gegen die Menschlichkeit"?

Mit einem Schuldenschnitt wird signalisiert, dass auch die Gläubiger Schuld tragen. Vielleicht nicht so extrem, wie es Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis einst ausgedrückt hat, als er von "einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sprach. Aber eine Mitverantwortung kann man den leichtgläubigen Gläubigern nicht absprechen.

Dies ist ein Streit um Prinzipien und Werte, und der ist immer schwer zu lösen. Doch eine Lösung muss es geben, will man Griechenland im Euro halten.

Akzeptabler Kompromissvorschlag aus Athen

Die jüngste Forderung der griechischen Regierung nach einer "Zusage, eine grundlegende Debatte darüber zu beginnen, wie mit dem Problem der Nachhaltigkeit der öffentlichen Schulden Griechenlands umzugehen ist", wäre eine akzeptable Kompromisslösung.

Ebenso hilfreich ist der Vorschlag von IWF-Chefin Christine Lagarde für eine weitere Umschuldung. Das wäre kein Schuldenerlass, sondern eine Fortsetzung der bisherigen Praxis. Aber die Regierung Tsipras könnte es doch als Erfolg verbuchen, der es ihr leichter macht, andere Auflagen zu akzeptieren.

Schulden sind ein Phantom

Die griechischen Schulden sind ein Phantom – aber eines, das die Atmosphäre vergiftet und großen Schaden anrichten kann, wenn damit nicht klüger als bisher umgegangen wird.

Übrigens: Auch ein Grexit würde nicht einen Totalausfall für die Gläubiger bedeuten, wie es oft behauptet wird. Selbst Argentinien hat nach 2002 einen kleinen Teil seiner Staatsschulden anerkannt und bedient. Eine massive griechische Abwertung würde die Rückzahlung der Schulden zwar zunächst erschweren, weil diese weiterhin in Euro denominiert sind, aber langfristig vielleicht sogar erleichtern, wenn die Wirtschaft später schneller wächst. (Eric Frey, 9.7.2015)