Innsbruck – Es sind schauderhafte Geschichten, die ehemalige Heimkinder über ihr Leben in den sogenannten Fürsorgeanstalten in Tirol und Vorarlberg erzählen. Geschichten, die verschriftlicht wurden und nach und nach an die Öffentlichkeit gelangen. Eine von den beiden Bundesländern in Auftrag gegebene Studie über die Geschichte der Heimerziehung belegt nun: Missbrauch, Zwangsarbeit und unverhältnismäßige Strafen waren allgegenwärtig. "Gewalt war Teil des Systems", sagt Michaela Ralser, Projektleiterin des Forschungsberichts.

Als Grundlage für die wissenschaftliche Aufarbeitung dienten vor allem Berichte von Zeitzeugen – von ehemaligen "Zöglingen" genauso wie Erziehern. Beleuchtet wird das öffentliche Fürsorgesystem von Beginn des vergangenen Jahrhunderts bis zu den Schließungen der Heime, die zum Teil noch nicht lange zurückliegen.

Gewalt erzeugt und toleriert

In den Landeseinrichtungen von Tirol und Vorarlberg wurden der Studie zufolge seit 1945 mindestens 8.000 Kinder untergebracht, weitere 4.000 bis 5.000 Kinder seien in katholischen Heimen untergekommen – heute sind die Betroffenen also zwischen 35 und 75 Jahre alt. "Das System der Erziehungsheime hat gewaltvolle Erziehungspraktiken in all ihren Formen der körperlichen, psychischen und sexualisierten Gewalt erzeugt, toleriert und war zu ihrer Verhinderung nicht willens oder nicht imstande", sagt Ralser.

Spezifisch für die beiden westösterreichischen Bundesländer, so erklärt die Erziehungswissenschafterin, seien eine besondere Dichte an Heimen, eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Kindern, die dort untergebracht wurden, und die späte Schließung der Erziehungsanstalten trotz öffentlichen Protests.

Kein allgemeiner Verjährungsverzicht

Zur Präsentation der Studie in Innsbruck waren auch die zuständigen grünen Soziallandesrätinnen der beiden Bundesländer anwesend. Die Vorarlbergerin Katharina Wiesflecker bat die Betroffenen um Verzeihung. "Das, was ihnen an seelischer, physischer und sexueller Gewalt angetan wurde, kann nie wieder gutgemacht werden." Die Tiroler Landesrätin Christine Baur gab zu bedenken, dass die Ausbildung der Erzieher zwar heute eine andere sei, "wir müssen aber trotzdem achtsam bleiben, ob es noch Reste gibt, die sich in solchen Machtgefügen vielleicht halten".

Seit dem Jahr 2010 haben sich in Vorarlberg 260 Menschen und in Tirol 360 Betroffene an die Opferschutzstellen der Länder gewandt – insgesamt wurde in dieser Zeit eine Entschädigungssumme von nicht ganz vier Millionen Euro ausgezahlt. Die beiden Landesrätinnen verteidigten erneut die Praxis, dass ein Verjährungsverzicht nur nach einer individuellen Prüfung erfolgen kann. Gegen das Land Tirol seien derzeit drei Prozesse anhängig, gegen Vorarlberg einer. (Katharina Mittelstaedt, 6.7.2015)