Wien – Die Regierungsparteien begraben das Herzstück ihrer geplanten Demokratiereform. Es wird auch künftig keine verpflichtende Volksbefragung geben, wenn sich besonders viele Bürger an einem Volksbegehren beteiligen. Diese Konsequenz ziehen SPÖ und ÖVP aus der parlamentarischen Enquete zum Thema Demokratiereform. "Wir legen das Projekt auf Eis", sagte ÖVP-Verfassungssprecher Wolfgang Gerstl bei einer Pressekonferenz am Montag.
Eigentlich hatten sich SPÖ und ÖVP bereits im Juni 2013 auf eine umfassende Demokratiereform geeinigt. Damals wurde in einem Gesetzesentwurf festgeschrieben, dass es eine Volksbefragung geben muss, wenn zehn Prozent der Bürger sich an einem Volksbegehren beteiligen. Ausnahmen sollten heikle Themen wie Völkerrecht und Menschenrechte sein. Nach Kritik von Verfassungsrechtlern und dem Bundespräsidenten kam die Nationalratswahl dazwischen – das Gesetz wurde nicht beschlossen und stattdessen eine parlamentarisch Enquete eingerichtet.
"Nicht das Gelbe vom Ei"
Für SPÖ-Verfassungssprecher Peter Wittmann hat die Enquete gezeigt, dass die Reformpläne "nicht das Gelbe vom Ei" seien. "Es kann passieren, dass man gescheiter wird." Einerseits gebe es nach wie vor verfassungsrechtliche Bedenken, andererseits bestehe die Gefahr, dass Milliardäre und Lobbygruppen Einfluss auf das Ergebnis einer Abstimmung nehmen. "Es gab sehr, sehr viele unterschiedliche Strömungen. Eine Zweidrittelmehrheit für dieses Gesetz war nicht möglich", sagte Gerstl.
Deshalb schlagen die beiden Verfassungssprecher von SPÖ und ÖVP in einem Papier der Enquete-Kommission vor, die Volksgesetzgebung lediglich auf Länder- und Gemeindeebene einzuführen. Dies sei auch jene Gesetzgebung, "die Bürger direkt betrifft", sagte Gerstl. Die Gefahr, dass Lobbyisten Einfluss auf das Ergebnis nehmen, sei auf lokaler Ebene geringer.
Bürger könnten dann Volksbegehren zur Bauordnung oder zur Sozialhilfe auf Landes- bzw. Gemeindeebene einbringen und wenn sich genügend Bürger beteiligten, darüber verbindlich abstimmen. Wie genau die Länder und Gemeinden ihre Instrumente der direkten Demokratie ausgestalten, solle ihnen selbst überlassen bleiben.
Online-Beteiligung an Gesetzen
An der Enquete haben erstmals auch acht Bürger teilgenommen. Ihre Stellungnahmen hätten gezeigt, dass sich Bürger vor allem am Gesetzwerdungsprozess beteiligen und nicht erst am Ende über ein fertiges Gesetz abstimmen wollen, sagte Wittmann. In Anlehnung an das finnische Modell sollen deshalb Bürger künftig einen Gesetzesentwurf online kommentieren können. Andere User haben die Möglichkeiten, diese Anmerkungen zu "liken", um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Eine Verpflichtung der Gesetzgeber dazu, die Anmerkungen zu beachten, wird es freilich nicht geben. Auch auf eine nötige Anzahl von "Likes" oder Anmerkungen, damit die Meinungen der Bürger in den Gesetzwerdungsprozess einfließen, wollten Wittmann und Gerstl sich nicht festlegen.
Kleine Änderungen sollen auch bei bundesweiten Volksbegehren kommen. Die beiden Verfassungssprecher schlagen vor, dass künftig jedes erfolgreiche Volksbegehren in zwei eigenen Sitzungen im Parlament behandelt werden müsse. In diesen Sitzungen dürfe ausschließlich das Volksbegehren Thema sein – bisher war es auch möglich, dass ein Volksbegehren nur als eines von mehreren Themen einer Sitzung behandelt wurde. Die Vertreter des Volksbegehrens sollen zudem im zuständigen Ausschuss vorsprechen dürfen.
Abstimmungsbüchlein der Regierung
Im Papier vorgesehen ist auch ein "Abstimmungsbüchlein", dass die Bundesregierung vor Volksbegehren und Volksbefragungen herausgeben solle, um eine objektive Meinungsfindung zu gewährleisten. Auch eigene "Belangsendungen" im ORF schlagen die Abgeordneten vor. An der Unterschriftenhürde für ein erfolgreiches Volksbegehren wird sich laut dem Vorschlag nichts ändern: Weiterhin müssen 100.000 oder ein Sechstel der Stimmberechtigten unterzeichnen, damit es im Parlament behandelt wird.
Eine Idee zur Stärkung des Parlamentarismus: Die Mitglieder der Bundesregierung sollen im Nationalrat einmal im Jahr eine Erklärung über ihre Vorhaben abgeben.
SPÖ und ÖVP brauchen für die meisten ihrer Vorschläge eine Zweidrittelmehrheit und müssen deshalb mit den Oppositionsparteien verhandeln. Wittmann ist zuversichtlich, dass die Ermöglichung neuer Instrumente der direkten Demokratie auf Länder- und Gemeindeebene noch in diesem Jahr beschlossen werden. Für alle weiteren Vorschläge geht er davon aus, dass noch ein weiteres Jahr verhandelt werden müsse.
Kritik von Opposition
Die Opposition hat das Vorgehen der Regierungsparteien in Aussendungen kritisiert. Die Vorschläge seien von Schritten in Richtung direkter Demokratie "meilenweit entfernt", sagt FPÖ-Verfassungssprecher Harald Stefan. SPÖ und ÖVP hätten wohl Angst vor der Bevölkerung.
Sie sei verärgert, dass die Ideen erst in einer Pressekonferenz und nicht den Teilnehmern der Enquete-Kommission vorgelegt werden, sagt die Verfassungssprecherin der Grünen, Daniela Musiol. "Statt die vielen Anregungen der angehörten Experten zur besseren Ausgestaltung der direktdemokratischen Instrumente aufzugreifen und den Kompromiss zu optimieren, lässt man im Kern alles beim Alten", sagt Musiol.
Auch die Neos sind enttäuscht. "Es wird sich nichts bewegen", sagt Verfassungssprecher Niki Scherak. Die direktdemokratischen Instrumente würden damit auch in Zukunft nicht ausgebaut. "Das ganze ist also alles andere als ein demokratiepolitischer Fortschritt – es ist ein Rückschritt", sagt Scherak. (Lisa Kogelnik, 6.7.2015)