Es gehört zum künstlerischen Konzept Tino Sehgals, dass seine Werke nicht fotografiert werden dürfen: Aber diese jungen Menschen vor dem Gropius-Bau form(t)en sich zu lebenden Kunstwerken.

Foto: Mathias Völzke

Berlin – Das Mädchen ist vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Es betritt auf leisen Sohlen einen großen, leeren Raum und beginnt zu sprechen. Ein wenig gespreizt wirkt das, aber bald wird klar, dass das einen guten Grund hat. Da steht nämlich eine Figur aus einem Manga, eine Zeichentrickheldin, die sich nach einer dritten und schließlich sogar nach einer vierten Dimension sehnt. Eine Kunstfigur, gespielt von einem Teenager, und der Betrachter weiß nicht genau, ob er auf ihre rhetorischen Fragen nicht doch antworten soll. Bin ich gemeint?

Die Ausstellung des Performancekünstlers Tino Sehgal im Berliner Martin-Gropius-Bau ist voll von solchen verunsichernden Momenten, in denen einmal mehr das seltsame Verhältnis zwischen Kunst und Publikum deutlich gemacht wird. Mit einem Bild spricht man in der Regel nicht, auch mit einer Skulptur gibt es allenfalls einen inneren Dialog.

Gegen die Intuition

Mit diesem lebenden Kunstwerk ist das genauso, aber das geht gegen die unmittelbare Intuition. Wenn ein Kind eine Frage stellt, möchte man antworten. Auch wenn es eine Frage ist, die deutlich einen anderen Autor hat als die Darstellerin, von der man keine hochgestochenen theoretischen Unterscheidungen zwischen Zeichen und Ding, Rolle und Objekt erwarten würde.

Fünf Werke von Sehgal wurden für die Schau in Berlin erarbeitet. Er spricht von "Situationen", dargeboten von einem Ensemble von Darstellern, die sich nach einem zwanglosen Protokoll durch die riesigen Räume des Gropius-Baus bewegen. Der Lichthof, von dem man noch die monumentale Installation von 6000 Stühlen von Ai Weiwei in Erinnerung hat, ist leer, manchmal bespielt ihn eines der beiden Mädchen (sie wechseln einander ab) allein, dann wieder kauern ein Mann und zwei Frauen auf dem Boden und umspielen einander mit Gesten und Lauten.

In Dunkelheit

Am Eröffnungstag am vergangenen Wochenende war auch der Chor im Lichthof zu sehen. Nun, ein paar Tage später, lässt er in nahezu vollständiger Dunkelheit in einem der Seitenräume seinen an- und abschwellenden Gesang vernehmen. Häufig lässt er nur ein "tütütü" erkennen. Von ferne her sind gute Vibrationen ausnehmbar. Und wenn man sich in der Finsternis ein wenig orientiert hat und zwischen den Performern herumspaziert, dann kommen sie einem gelegentlich so nahe, dass man ihren Atem riechen kann.

Das macht dann noch einen anderen Unterschied zum klassischen Kunstkontakt. Dunkelheit ist bei Tino Sehgal spätestens seit dem von ihm inszenierten Raum im Hugenottenhaus bei der Documenta 13 in Kassel ein großes Thema. In Berlin zeigt er seine Arbeit The Kiss in einer ähnlichen Form, wie auch This Variation, wobei sich die Variationen eben auch von Ausstellung zu Ausstellung ergeben.

Umstritten wie wenige sonst

Mit seinem besonderen Werktypus hat Sehgal den Kunstbetrieb in der letzten Dekade nachhaltig beschäftigt. Er ist umstritten wie wenige sonst. Aber in der konzentrierten Situation einer Einzelpräsentation, die der Gropius-Bau ermöglicht, werden die Stärken seines Ansatzes doch sehr deutlich:

Das begehbare Theater, nach dem Christof Schlingensief so intensiv gesucht hat, trifft auf die Deklamationschoreografien von Einar Schleef, wobei Sehgal alle diese Formen und auch die ihnen zugeordneten Räume in die Subjektivität der Betrachter verlegt. Seine Situationen finden eben in den weißen (und schwarzen) Kästen des Kunstraums statt, und doch denken wir uns alles Mögliche hinzu, und immer wieder beißt man sich auf die Lippen.

Spannungsräume öffnen

Denn es gibt durchaus Raum für Improvisation innerhalb der planvollen Bewegung, und so wie man das Mädchen intuitiv durch eine Antwort aus seinem "Automatendasein" erlösen möchte, so würde man vielleicht auch gern an der Diskussion über die Griechenland-Krise teilnehmen, die einer der Performer im nächsten Raum beginnt. Stimmt es wirklich, dass die Mehrwertsteuer auf 30 Prozent steigen sollte? Das gehört im Grunde nicht in eine Ausstellung, aber es macht Sinn in einem Konzept, das zwischen bloßem Klang, sinnloser Äußerung und absichtsvollem Satz, zwischen spontaner Geste und einstudierter Bewegung viele Spannungsräume öffnet, in die das Publikum schließlich doch noch drängt.

Eine Frau macht mit ihrem Telefon ein Foto von einer Situation. Das ist eigentlich nicht erlaubt, und zählt als Überschreitung dieses Verbots doch fast naturgemäß dazu. Sehgal sucht nach einer Kunst, die sich rarmacht, indem sie uns aus Situationen ausschließt, in denen wir eigentlich durchaus mitmachen könnten. An diesem Paradox kann man sich hier wunderbar abarbeiten. (Bert Rebhandl, 6.7.2015)