Graz – Die Frau des mutmaßlichen Amokfahrers von Graz, die seit Wochen in einem Frauenhaus lebt, erzählte am Montagabend in der ORF-Sendung "Thema", dass sie nicht nur von ihrem Mann jahrelang geschlagen und getreten, sondern auch von dessen Eltern misshandelt und eingesperrt worden sei. Staatsanwaltschaft Christian Kroschl sagte dem STANDARD dazu, dass Ermittlungen auch gegen die Eltern des Beschuldigten in dieser Causa bereits aufgenommen wurden.

Vorwürfe gegen Behörden

Die Vorwürfe sind den Behörden durch eine Anzeige der Frau am 11. Juni, also neun Tage vor der Amokfahrt, bekannt. Den Vorwurf, das Jugendamt habe nicht nach der Familie gesehen, nachdem die Polizei 2014 mehrmals eingeschritten ist, weil der Mann im Garten mit einer Waffe herumgeschossen hat, wies die Bezirkshauptmannschaft Graz Umgebung zurück. "Zu keinem Zeitpunkt war damals von einer Gefährdung der Familie die Rede, erst im Zuge der Wegweisung heuer am 28. Mai wurde uns das bekannt und das Jugendamt eingeschaltet", so Bezirkshauptmann Burkhard Thierrichter. Polizeisprecher Maximilian Ulrich sieht keine Schuld bei der Polizei: "Wir haben die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung und das Gericht informiert." Die Amokfahrt, die drei Tote und 36 Verletzte forderte, war auch Thema bei einem Pressegespräch des Vereins "Sicher leben in Graz", der seit 2014 NGOs und Behörden zum Zweck der Kriminalprävention und sozialer Solidarität vernetzt. Er organisierte am Dienstag einen Ausbildungstag für Grazer Polizeibeamte und Pädagogen zum Umgang mit Tätern und Opfern sexualisierter Gewalt. Vortragende war die Psychiaterin Adelheid Kastner.

Psychiaterin Kastner fordert Zivilcourage

Die Schulung war seit Monaten fixiert, die traurige Aktualität durch die Amokfahrt nicht vorhersehbar. Umso mehr nutzen Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP), Kastner und Ursula Auer, jene Polizistin, die am 20. Juni die Einsatzleiterin war, den Termin für einen Appell an die Bevölkerung, nicht wegzuschauen, wenn man häusliche Gewalt wahrnehme. Hier brauche es "Zivilcourage", betonte Kastner. Sie bezeichnete die Amokfahrt als ein "extrem seltenes Ereignis", das zurzeit "nicht zuordenbar" und in Österreich und weltweit eine "Rarität" darstelle, und halte mehrere Motivlagen für denkbar. "Man kann auch Läuse und Flöhe gleichzeitig haben", so Kastner. Auch wenn sowohl Kastner als auch Auer die Amokfahrt als Fall einschätzen, den man nicht hätte verhindern können, betonte die Polizistin: "Jede Behandlung von Tätern ist auch Opferschutz." Stimmt nicht, kontert die Polizei, alle Informationen seien weitergereicht worden. Nagl betonte, dass er in den letzten Tagen umfassende Dossiers über Gewalt, "die Männer ihren Frauen und Kindern antun", bekommen habe, die ihn schockierten.

Nagl: "Strafrecht nochmals ansehen"

Er müsse als Politiker Stellung nehmen und auch an den Bund zu appellieren, "sich das Strafrecht hier noch einmal anzusehen". Denn: "Hier geht es nicht um irgendwelche kleinen Delikte, sondern darum, dass das Leben von Menschen zu Hause zerstört wird, dass ihre Psyche zerstört wird." Auf Landesebene wolle man Polizei und Organisationen, die mit Tätern und Opfern arbeiten, jedenfalls noch besser vernetzen. Bei Wegweisungen soll man künftig Tätern ein Informationsblatt mitgeben. (Colette M. Schmidt, 30.6.2015)