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Digitalkommissar Günther Oettinger

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Geht es nach Digitalkommissar Günther Oettinger, wurde die EU in der Nacht von Montag auf Dienstag haarscharf vor einem verheerenden Fehler bewahrt. Der Beschluss einer uneingeschränkten Netzneutralität hätte das Leben europäischer Bürger gefährdet. Wer will schon, dass selbstfahrende Autos zusammenkrachen, weil irgendjemand auf dem Rücksitz unbedingt einen Film streamen muss und nicht mehr genügend Bandbreite für die Steuerung des Autos vorhanden ist? Natürlich niemand, also muss es möglich sein, dass einzelne Services bevorzugt werden, argumentierte Oettinger. Irgendwie einleuchtend. Die Angelegenheit hat nur ein klitzekleines Problem: Die Behauptung ist haarsträubender Unsinn. Selbstfahrende Autos müssen umgehend auf die aktuelle Verkehrssituation reagieren, alle Berechnungen erfolgen insofern lokal und nicht über das Internet. Alles andere wäre hochgradig unverantwortlich, mit Netzneutralität hat dies gar nichts zu tun.

Nun könnte man dies als simples Missverständnis abtun. Dass Oettinger mit solch absurden Beispielen durchkommt, ist aber geradezu symptomatisch für den Zustand der europäischen Politik in Internetfragen. Sie ist getragen von einer innovations- und technikfeindlichen Attitüde, die in ihrer gelebten Ahnungslosigkeit nicht recht weiß, was sie anrichtet – oder sich einfach nicht darum schert. Niemand verkörpert das besser als Oettinger selbst, bei dem es kein großes Geheimnis ist, dass er über den Posten als Digitalkommissar alles andere als glücklich ist. Bis heute sieht er sich zu höheren Weihen berufen.

Dabei hätte im konkreten Fall schon ein Blick in die USA gereicht. Ausgerechnet im Kernland des Kapitalismus wurde vor kurzem strikte Netzneutralität beschlossen, die Breitbandinternet als "öffentlichen Versorgungsdienst" klassifiziert, der allen gleichberechtigt zur Verfügung stehen muss. "Socialism in the USA?" Mitnichten, über dem großen Teich ist nur das Verständnis für die technischen Zusammenhänge ungleich größer. Nur absolute Netzneutralität garantiert, dass Start-up-Unternehmen die gleichen Chancen haben wie große Konzerne. Wenn etwa der Musikdienst Spotify Deals mit Netzbetreibern schließt, um gestreamte Musik aus dem Datenlimit auszunehmen, ist dies vor allem für die "Kleinen" ein Nachteil, die sich solche Deals nicht leisten können.

Es ist ein Muster, das sich bei vielen netzpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre wiederholt: Zugunsten der Interessen einzelner Lobbygruppen – im konkreten Fall der Netzanbieter – werden reihenweise kurzsichtige Entscheidungen getroffen.

Das auch in Österreich geplante Leistungsschutzrecht ist ein weiteres eindrückliches Beispiel. Gegen Google in Stellung gebracht, schadet die Zwangsvergütung für Textausschnitte in Deutschland bisher vor allem kleinen Unternehmen – und stört das eigentliche Angriffsziel herzlich wenig.

Angesichts solcher Voraussetzungen darf es nicht verwundern, dass es in Europa keine Start-up-Kultur gibt, die sich auch nur annähernd mit jener des Silicon Valley messen kann. Wer die notwendigen technischen Fähigkeiten besitzt, wandert, wenn es irgendwie geht, aus. Das liegt zum Teil sicher auch daran, dass die US-amerikanische Gesellschaft experimentierfreudiger ist. Die europäische Politik trägt aber das ihre bei – und schadet so selbst aktiv der eigenen Zukunft. (Andreas Proschofsky, 30.6.2015)