Ein kolumbianischer Priester segnet die Gräber der unbekannten Toten, die von den Stadteinwohnern Namen bekommen haben.

foto: thomas wagner

Puerto Berrio – Schnell fällt an diesem Sonntag-nachmittag die Dunkelheit über die weiß getünchten Pavillons des Friedhofs der kolumbianischen Kleinstadt Puerto Berrio. Punkt 18 Uhr wird Friedhofsleiter Henry Cardénas die Pforten schließen. Leidi de Jesus Garzón, 43 Jahre alt, dunkle Haut, leuchtende Augen, muss sich beeilen. Sie stellt den Plastikbecher mit dem Weihwasser und dem Rum in die rechteckige Öffnung des Grabs. Dann sagt sie dreimal das Vaterunser.

Zwei spanische Worte stehen in schwarzer Farbe auf der 50 Quadratzentimeter großen Grabplatte geschrieben: "NN" und "Escogido". "NN" ist die Abkürzung für "Ningún nombre", auf Deutsch "namenlos". "Escogido" heißt so viel wie "reserviert".

Konflikt seit 50 Jahren

Leidi hat den Toten hinter der 20 Zentimeter dicken Betonschicht auf den Namen Gabriel Gómez getauft. Seinen wirklichen Namen, woher er stammte, wie er hier endete, all das weiß sie nicht. Sie weiß nur: Gabriel Gómez war ein Kolumbianer mehr, der in dem seit 50 Jahren währenden bewaffneten Konflikt ums Leben kam. 11.000 Opfer hat die kolumbianische Staatsanwaltschaft bis heute nicht identifiziert. Etwa 60 von ihnen ruhen auf dem Friedhof von Puerto Berrio.

Als sie vor zwei Jahren von einem Gottesdienst zurückkehrte, fiel ihr das Grab auf, erzählt Leidi. Sie beschloss, den Toten zu adoptieren. Seither kommt sie einmal im Monat und betet für den Unbekannten. Das "ausgewählt" pinselte sie auf das Grab, um anzuzeigen, dass sich jemand seiner angenommen hatte. Die meisten Grabplatten rechts und links in der Wand tragen dieselbe Inschrift. Auch vor ihnen stehen Menschen, um für ihren Toten zu beten.

Berührende Tradition

Es ist eine berührende Tradition, die sich in Puerto Berrio entwickelt hat. Sie hat mit Nächstenliebe, aber auch mit Geografie zu tun. Schaut man auf eine Kolumbien-Karte, befindet sich die Kleinstadt mit ihren 44.000 Einwohnern im nördlichen Zentrum des Landes, etwas oberhalb der Hauptstadt Bogotá, direkt am Magdalena-Fluss gelegen.

Während des bewaffneten Konfliktes zwischen Streitkräften, linken Guerillagruppen und rechten Paramilitärs warfen die Täter ihre Opfer einfach in das Wasser des Magdalena. Der Fluss schwemmte viele der Toten bis Puerto Berrio. Einige Leichname waren aufgedunsen, manchen fehlten Gliedmaßen, manche trieben den Fischern in die Netze.

Namenlose Tote

"Viele der Menschen, die einen namenlosen Toten adoptieren, haben selbst Verwandte im Konflikt verloren. Sie hoffen, dass man sich ihrer Angehörigen in anderen Orten ebenso annimmt", sagt der 32-jährige Pfarrer Ronald Sandoval. "Puerto Berrio liegt im Herzens Kolumbiens. Für jede bewaffnete Gruppe stellte es so was wie eine Trophäe dar", fügt Sandoval hinzu. Seit den 1970er-Jahren war die Stadt eine Hochburg der linken Guerillaorganisationen Farc und EPL. Im Jahr 2000 marschierten die Paramilitärs ein.

"Fast täglich trieben Tote in die Stadt", sagt der Pfarrer. Die großen paramilitärischen Gruppen gaben 2005 ihre Waffen ab. Das Blutvergießen ist seither zurückgegangen, sagt Sandoval. Aufgehört hat es nicht.

Sandoval sieht die Adoption der namenlosen Toten durch seine Mitbürger mit kritischen Augen. "Die Tradition hat einen sehr noblen Ursprung, aber sie hat sich in eine Art Mode verwandelt", sagt er. "Vor einigen Jahren gewann einer die Lotterie und sagte dann, dass ihm sein Toter Losglück brachte." Der Geistliche versucht seither vergeblich, seinen katholischen Schäfchen den Aberglauben auszutreiben, dass die namenlosen Toten Glück bringen.

Nur Priester rational

So recht haben die Worte des rationalen Priesters bisher nicht gefruchtet: "Ich wünschte mir einen Ehemann", sagt Leidi. Im Jahr, nachdem sie Gabriel Gómez adoptierte, fand sie ihn. Kein Zufall, ist Leidi überzeugt. Friedhofsmanager Henry Cárdenas führt zu einem anderen Pavillon und zeigt dort auf zwei Gräber. "Hier habe ich zwei Namenlose versteckt. Keiner kann sie in Besitz nehmen", sagt er stolz.

Es sind die einzigen anonymen Konfliktopfer, die Cárdenas entgegengenommen hat, seit er vor drei Jahren seinen Job auf dem Friedhof begann.

Weniger Opfer

Seit sich die Paramilitärs 2005 demobilisierten, ist die Zahl der NN im ganzen Land drastisch zurückgegangen.

Leidi hat in ihrer Wohnung einen Altar mit mehreren Kerzen aufgestellt. Sie bläst sie nie aus. Eine hat sie Gabriel Gómez gewidmet, eine andere ihrem Sohn. Der starb als Soldat im Alter von 25 Jahren bei einem Gefecht. Ein schwacher Trost: Seine Überreste wurden gefunden, sodass sie ihm ein ordentliches Begräbnis geben konnte. (Thomas Wagner aus Puerto Berrio, 29.6.2015)