"Die neue Form der Überwachung scheint die zu sein, bei der jeder jeden überwacht. Soziale Medien werden dazu verwendet, die Normen der Mehrheit durchzusetzen": Anna Kim.

Foto: Andy Urban

STANDARD: Zeit hat in Ihren Werken eine große Bedeutung. Nun schreiben Sie über die "berechenbare Zukunft" unserer Transparenzgesellschaft, in der der Zufall zum Antagonismus wird. Ein Verlust für die Literatur?

Kim: Ich glaube tatsächlich, dass der Zufall für die Literatur sehr wichtig ist – ohne Zufälle (und Irrtümer) müssten die meisten Bücher der Weltliteratur umgeschrieben werden. In den Stücken Shakespeares spielt der Zufall eine große Rolle, oder bei Sophokles, wobei dieser den Zufall als Schicksal uminterpretierte. Vielleicht aber war es auch umgekehrt, und wir haben das Schicksal in eine Abfolge von Zufällen verwandelt. So gesehen wäre es nur logisch, dass wir im 21. Jahrhundert den Zufall loswerden wollen. Ich bin, wenn man so will, mit dem Zufall aufgewachsen.

Mein Vater war Künstler, und jeder Verkauf eines Bildes war ein kleines Glück, und die Momente des Glücks kamen durch Zufälle zustande, so erschien es mir jedenfalls als Kind. Die Schönheit des Zufalls liegt darin, dass er Verbindungen sichtbar macht, die unsichtbar waren – Verbindungen zwischen Fremden, deren Leben einander durch diese plötzliche, spontane Begegnung berühren und beeinflussen: Im Zufall wird deutlich, wie wenig allein wir sind. Auch aus diesem Grund ist der Zufall aus der Literatur nicht wegzudenken.

STANDARD: Sie schlagen in Ihrem Buch vom heutigen ausspionierten Bürger eine Brücke zur historischen Figur der Edith Tudor-Hart. Woher rührt Ihr Interesse für sie?

Kim: Ihre Bilder haben mich sehr beeindruckt, besonders die Art und Weise, wie sie mit nur einem kleinen Ausschnitt eine ganze Welt vermittelt. Ihre Art zu fotografieren ist eine sehr narrative, wie ich finde, jedes Foto erzählt eine Geschichte. Sie war als Spionin für die Sowjetunion tätig und hat aus Angst vor den Folgen ihrer Spionagetätigkeit einen Teil ihres Archivs zerstört; sie fotografierte natürlich ihr Leben, ihre Familie, ihre Freunde und Bekannte. Wie muss sich das anfühlen, fragte ich mich. Wie eine Befreiung? Im ersten Moment vermutlich ja, aber was kommt danach? Reue? Trauer? Weil es sich wie das Auslöschen der Erinnerung anfühlt?

STANDARD: In der digitalen Welt wäre ein solches Auslöschen unmöglich, digitale Spuren sind kaum wieder zu entfernen. Doch der Wahrheitsgehalt der Beiträge im Netz ist oft anzweifelbar. Sind es überhaupt "echte" Erinnerungen, "echte" Inhalte?

Kim: Bei dem meisten, was im Netz an Fotos, Texten und Videos kursiert, handelt es sich um Repräsentationen: Versuche, die Welt davon zu überzeugen, dass man richtig lebt – an den richtigen Orten Urlaub macht, in den Restaurants zu Abend isst, die zählen. Allerdings glaube ich, dass das nichts Neues ist. Identität wird ja nicht ausschließlich von einer Person bestimmt – die Art, wie und als wer man gesehen wird, beeinflusst die Antwort auf die Frage "Wer bin ich?" entscheidend. Das Neue ist, dass wir diesen Drang nun überregional ausleben können.

STANDARD: Das Recht auf Privatheit wird Minderheiten in der Gesellschaft vorenthalten. Sie beschreiben dies anhand persönlicher Erlebnisse, die Sie als Kind koreanischer Eltern in Deutschland und Österreich gemacht haben. Jeder, der anders ist, ist zugleich verdächtig. Verstärkt Überwachung die Gleichmachung?

Kim: Ja, auf jeden Fall, wobei die Überwachung nicht unbedingt vom Staat ausgehen muss. Die neue Form der Überwachung scheint die zu sein, bei der jeder jeden überwacht. Soziale Medien werden dazu verwendet, die Normen der Mehrheit durchzusetzen. Man denke nur an die Shitstorms, die alle paar Wochen die digitale Welt erfassen und deutlich machen, dass Abweichungen nicht erwünscht sind. Davon abgesehen finde ich es äußerst bedenklich, dass die Inhalte im Internet selbst immer formelhafter werden und das Internet zu einem Multiple-Choice-Test verkommt. Die Antworten werden zugleich mit den Fragen bereitgestellt und Beiträge, die nach längeren, komplizierteren Antworten verlangen, ignoriert. Die Masse der Artikel im Internet folgt genau festgelegten Regeln: kurze Sätze, aktuelle Themen, das Vokabular up to date. Es scheint nur eine begrenzte Anzahl von Fragen zu geben und nur eine begrenzte Anzahl von Antworten. Das ist sehr schade; meiner Meinung nach grenzen wir die Freiheit des Internets selbst ein – aber das ist natürlich auch eine Auswirkung von Überwachung.

STANDARD: Die Technologie gibt uns "die Sicherheit, keiner Unsicherheit ausgesetzt zu sein". Sie beschreiben auch Zusammenstöße zwischen der virtuellen und der realen Welt, einer kontrollierten realen Welt, in der kein Glück, sondern allenfalls "Angenehmheit" entsteht. Ist das überhaupt wünschenswert?

Kim: Ich glaube, dass die neuen Technologien dazu genutzt werden können, die Freiheit zu gewährleisten, von der alle sprechen. Mit allen Menschen kommunizieren zu können, die Welt in ein Dorf zu verwandeln kann wunderbar sein, denn dann würden wir vielleicht endlich auch die Gemeinsamkeiten sehen und nicht nur die Unterschiede, die es zwischen den Ländern gibt. Das Problem ist, dass die neuen Technologien aufgrund der aktuellen weltpolitischen Situation immer mehr dazu genutzt werden, diese Freiheit einzuschränken: Seit 11. September 2001 werden mit der Erklärung, dies seien Maßnahmen gegen den Terrorismus, auch in Europa zunehmend Grundrechte beschnitten. Diese Maßnahmen richten sich nicht nur gegen Verdächtige. Wie wir durch Edward Snowden wissen, stehen wir alle unter Beobachtung. Die Annahme, dass jeder schuldig ist, seine Unschuld also erst bewiesen werden muss, ist meiner Meinung nach höchst problematisch.

STANDARD: Diese generelle "Schuldsvermutung" gefährdet das "Recht auf Privatheit" aller. Viele sagen: Soll die NSA aufzeichnen, ich habe nichts zu verstecken. Hat der private Raum nun, da wir ihn sehr weit ausdehnen konnten, an Wert verloren? Geht die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum verloren?

Kim: Mark Zuckerberg meinte ja bereits, dass Privatheit überholt sei. Das klang in meinen Ohren mehr wie eine Kampfansage und weniger wie eine Analyse der Gegenwart. Natürlich verdient Facebook besser, je weniger die Mitglieder um ihre Privatsphäre besorgt sind. Der Verdacht drängt sich auf, dass Privatheit in Zukunft ein Gut sein wird, das man sich erkaufen wird müssen, etwas, das sich vor allem vermögende Menschen leisten werden können, sozial schwächere hingegen nicht. Diese werden zunehmend ihre Privatsphäre für Rabatte und Sonderangebote aufgeben.

Das Recht auf Privatheit hat ja viel mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu tun: Händler wollen auf die Entscheidungen ihrer Konsumenten Einfluss nehmen. Kleine Firmen haben nicht das dazu nötige Kapital, Konzerne aber schon. Ebenso hat der Großteil der Bevölkerung nicht die finanziellen Möglichkeiten, sich gegen diese Einflussnahme zu wehren. Wir können es uns zum Beispiel nicht leisten, unsere Arbeitgeber zu verärgern, also müssen wir unser Handy aufgedreht lassen und beantworten auch im Urlaub E-Mails. Diese ständige Verfügbarkeit steht in direktem Zusammenhang mit Verdienstmöglichkeiten.

STANDARD: Sie schreiben, dass Sie früh gelernt haben, zwischen Privatem und Öffentlichem zu unterscheiden, und dass diese Unterscheidung an die Sprache gebunden war: Koreanisch, die "Schattensprache", die Sprache des Privaten, Deutsch die des Öffentlichen. Worin sehen Sie die Merkmale einer Sprache der Öffentlichkeit?

Kim: Die Sprache des Öffentlichen ist die Sprache der Mehrheit. Diese bestimmt die Inhalte und das Vokabular. Die Themen der Minderheit finden so oft gar nicht ihren Weg in die Sprache des Öffentlichen, sondern verbleiben in der Sphäre des Privaten. Die Kommunikation zwischen den Sprachen muss auch nicht immer reibungslos verlaufen. Das kennen wir alle: die Probleme, die wir haben, Privates, Intimes auszusprechen bzw. in die öffentliche Sprache zu übersetzen, selbst wenn es in beiden Fällen Deutsch ist. Die Sprache des Öffentlichen operiert viel mehr mit festgelegten Bildern als die Sprache des Privaten, die ihre eigenen Bilder schafft und diese leichter korrigieren kann, sollten sie sich als fehlerhaft herausstellen.

STANDARD: Ist das Private heute mehr auf die Literatur angewiesen?

Kim: Ich glaube, dass das Private schon immer auf die Literatur angewiesen war (und auch immer sein wird), und umgekehrt, dass die Literatur schon immer auf das Private angewiesen war – einerseits auf den privaten Raum, der das Reflektieren erst möglich macht, andererseits auf die privaten Geschichten, die trotz ihrer Einzigartigkeit Ebenen zur Identifikation öffnen. Das Faszinierende an Literatur ist, dass sie, obwohl sie oft vom zutiefst Privaten, ja manchmal sogar Intimen spricht, zugleich auch immer allgemein gültig ist. (Isabella Pohl, 27.6.2015)