Zuerst hielten die zwei Täter einen Transportunternehmer – offenbar den Arbeitgeber eines der Täter – an; sie enthaupteten ihn, brachten islamistische Inschriften an seinem Kopf an und spießten diesen auf einen Zaun der Firma Air Products. Dann durchbrachen sie mit einem Auto die Eingangspforte zum Gelände des Unternehmens; dort öffneten sie Gasflaschen und rammten sie, um sie zur Explosion zu bringen.

Das ist laut Polizei das wahrscheinlichste Szenario der Attacke von Freitag in Saint-Quentin-Fallavier südöstlich der Rhône stadt Lyon. Genauere Einzelheiten lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Offenbar wurden vor Ort Bänder oder Fahnen mit islamistischen Inschriften gefunden. Zwei Mitarbeiter wurden durch die Explosionen verletzt. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen, nachdem ihn offenbar ein Feuerwehrmann überwältigt hatte. Eine zweite Person wurde später ebenfalls festgenommen; es war aber vorerst unklar, ob es sich um einen Mittäter handelte.

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Die Ermittler am Leichenfundort.
Foto: Reuters/Foudrot

Die französische Staatsanwaltschaft schaltete die Antiterrorpolizei ein. Den Tatort sicherte ein Großaufgebot ab. Staatspräsident François Hollande verließ den EU-Gipfel in Brüssel und organisierte im Pariser Elysée-Palast einen Krisenrat. In einer Erklärung im Fernsehen sprach er von einem "Anschlag terroristischer Natur". Er rief alle Parteien zu einem nationalen Schulterschluss gegen die Bedrohung auf, warnte aber auch vor kollektiven Schuldzuweisungen. "Wir müssen unsere Werte verteidigen und dürfen niemals zulassen, dass die Angst Oberhand gewinnt", erklärte der sozialistische Präsident.

Premierminister Manuel Valls, der seine Südamerika-Reise unterbrach, ordnete für alle Sicherheitsbehörden in der Region Rhône-Alpes "erhöhte Wachsamkeit" an. Die Sicherheitsmaßnahmen in Frankreich sind seit den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt im Jänner verstärkt.

Salafistische Kreise

Der mutmaßliche Täter wird von der Polizei salafistischen Kreisen zugerechnet. Der Chauffeur soll aus Saint-Priest stammen, einer Vorstadt von Lyon unweit des Tatorts. Der verheiratete Vater von drei Kindern soll sich in der Haft als Vertreter der Terrormiliz "Islamistischer Staat" (IS) ausgegeben haben. Innenminister Bernard Cazeneuve gab bekannt, der Festgenommene sei 2006 wegen islamistischer Umtriebe überwacht worden; 2008 habe man ihn aber wieder aus dem Register gestrichen. Seine Frau, die mittlerweile verhaftet wurde, fiel offenbar aus allen Wolken: "Ich weiß nicht, was passiert ist, sagte sie zu Journalisten. "Er ging morgens um sieben Uhr zur Arbeit. Um zwölf kam er nicht zurück. Meine Schwägerin sagte mir: ‚Schalt den Fernseher ein.‘ Und da stoppte mein Herz: Ich kenne ihn, das ist mein Mann!"

Erst im April hatte die Polizei einen Anschlag auf eine Kirche in der Nähe von Paris vereitelt. Sie verhaftete einen 24-jährigen Studenten in Villejuif (südlich von Paris), bevor er zur Tat schreiten konnte. Der Tatverdächtige von Villejuif hat einen ähnlichen Werdegang wie jene zwei Brüder, die das Magazin Charlie Hebdo angriffen. In beiden Fällen staunte die Polizei, wie glatt sich der Übergang vom geschichtslosen Ban lieue-Jugendlichen zum eiskalten Terroristen vollzog. Von ersten Kontakten auf Islamisten-Webseiten oder späteren Jihadreisen nach Syrien abgesehen, ist er kaum eruierbar. Wenn sie einmal im Griff von Islamisten sind, können sich diese labilen Charaktere sehr schnell indoktrinieren und manipulieren lassen.

Der neueste mutmaßliche Attentäter in der Gasfabrik stammt seinerseits aus einer Vorstadt in Lyon – und der dortigen Salafistenszene. Einer mehr, sagen sich die Franzosen. Die Herkunft des Terroristen kommt ihnen mittlerweile bekannt vor. Sie wissen, dass hunderte von Banlieue-Jugendlichen in den Jihad gereist sind, tausende Kontakt zu Islamisten haben. Das schürt Ängste vor ständig neuen Attacken, erklärt aber auch die fast schon schulterzuckende Reaktion der französischen Öffentlichkeit.

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Grafik: APA


Ebenso gravierend ist der Umstand, dass die potenziellen Terrorkandidaten immer noch eine verschwindende Minderheit ge genüber dem Gros der friedfertigen Muslime darstellen, die derzeit Ramadan begehen. Sie haben mit Terror so wenig am Hut wie alle anderen Franzosen. Im Vorstadtzug werden die Banlieue-Jugendlichen aber in den nächsten Tag wieder schief angeschaut. Bald werden sie von den Franzosen wieder übersehen werden. Bis zum nächsten Terroranschlag. (Stefan Brändle aus Paris, 26.6.2015)