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Demonstration in Sarajevo gegen die Verhaftung von Naser Orić in der Schweiz. Im Hintergrund die alte bosnische Armee- und Nationalflagge.

Foto: AP/Amel Emric

Der Konflikt zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina im Vorfeld des 20. Jahrestags des Genozids in Srebrenica spitzt sich zu. Zuvor hatten die Organisatoren der Gedenkveranstaltung, zu der dieses Jahr zehntausende Menschen aus der ganzen Welt – unter anderem Bill Clinton – erwartet werden, angekündigt, dass sie diese verschieben würden, bis der Ex-Kommandant von Srebrenica, Naser Orić, teilnehmen kann.

Orić wurde am 10. Juni in der Schweiz aufgrund eines serbischen Haftbefehls festgenommen. Der Bürgermeister von Srebrenica Ćamil Duraković sprach von einer Eskalation und verlangte die Entlassung von Orić bis Ende Juni, ganz so, als könne man bei der Schweizer Justiz irgendetwas bestellen. Hinter ihm standen auch Opfergruppen wie die "Mütter von Srebrenica", deren Männer, Söhne und Brüder dem Völkermord zum Opfer fielen.

Und tatsächlich, wenn auch wohl nicht aufgrund der Forderung Durakovics, entschied die Schweizer Justiz am Donnerstag in einem "vereinfachten Verfahren", Orić nicht nach Serbien, sondern nach Bosnien auszuliefern. Damit wurde Sarajevos Argumentation gefolgt, wonach für Verbrechen auf bosnischem Boden, einem bosnischen Staatsbürger ebendort der Prozess gemacht werden sollte.

Fall Orić

Der Chef der bosniakischen Partei SDA, Sohn des früheren Präsidenten Alija Izetbegović und bosniakisches Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums, Bakir Izetbegović, sagte, der Fall Orić sei zentral für das Verhältnis zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien und machte eine rechtliche Frage damit endgültig zum Politikum. Opferorganisationen und viele andere Bosniaken sahen in der Verhaftung von Orić kurz vor dem 20. Jahrestag einen "serbischen Plan". Nach Bekanntwerden der bevorstehenden Auslieferung Orićs nach Bosnien, sprach Izetbegović von einem "weiteren gescheiterten Versuch Serbiens, Bosniens Bürger zu schikanieren". Er fügte hinzu, dass es in diesem Fall besonders beschämend sei, wie mit einem "Helden der Abwehr Srebrenicas" umgegangen wurde.

Orić wurde 2008 von dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag freigesprochen – zuvor war er 2006 verurteilt worden, weil er Morde an serbischen Gefangenen nicht verhindert hatte. 2008 urteilte das Gericht dann, dass die Anklage nicht bewiesen habe, dass Orić vom Tod und der unmenschlichen Behandlung der Inhaftierten gewusst habe. Dass diese Morde aber durchgeführt wurden, wurde niemals bestritten.

Unter Orićs Kommando überfielen bosnische Soldaten 1992 und 1993 Dörfer im Umfeld von Srebrenica, in denen Serben lebten. Sie brannten nicht nur die Häuser nieder und plünderten sie aus, sondern sie ermordeten wahllos Dutzende Zivilisten – betagte Frauen, Kinder, Männer. Der Name Naser Orić wird in diesen Dörfern auch heute noch mit Folter und Brutalität in Zusammenhang gebracht. Die Angehörigen der Opfer suchen weiter nach Gerechtigkeit, für sie ist die Tatsache, dass bosniakische Nationalisten Naser Orić als Helden feiern und T-Shirts mit seinem Namen tragen, ein Affront und eine Demütigung.


Bewegte Biografie

Orić selbst hatte zu dem Zeitpunkt, als er Kommandant in Srebrenica wurde, bereits eine lange "Karriere" hinter sich. Der Mann, der in Potočari geboren wurde – jenem Ort in der Nähe von Srebrenica, wo heute das Gräberfeld für die muslimischen Opfer des Genozids liegt –, wurde Polizist und in einer Spezialeinheit ausgebildet. Er war dem Innenministerium von Serbien zugeteilt, wurde in den Kosovo geschickt und in jene Abteilung, die für den Personenschutz von Slobodan Milošević zuständig war.

Mit Milošević hatte er auch während seiner Untersuchungshaft in Scheveningen in den Niederlanden – wie Fotos belegen – Kontakt. Auch dem kriminellen Sohn von Milošević, Marko, stand er nahe. In Belgrad arbeitete er als Türsteher in einer Disco. Ab 1991 war er in der Polizeistation in Srebrenica, ab 1992 wurde er dann Kommandant der sogenannten Territorialverteidigung für die gesamte Region rund um Srebrenica. Orić war da schon einflussreich, er hatte die Unterstützung höchster politischer bosniakischer Kreise in Sarajevo. 1994 bekam er die "goldene Lilie", die höchste Auszeichnung der bosnischen Armee, verlieren.

Mediale Inszenierung

Während des Krieges rühmte er sich der "zahlreichen Siege" im Kampf um die Dörfer rund um die Enklave. "Die Außenwelt kann das nicht verstehen, und es bleibt ein Rätsel für die Historiker, wie das gemacht wurde", sagte er damals. Er sprach davon, wie es seine Einheiten geschafft hatten, die Aggression auf Srebrenica aufzuhalten. Tatsächlich war die Enklave von serbischen Einheiten umzingelt. In der Stadt selbst, in die viele muslimische Flüchtlinge geflohen waren, war er auch Herr über die Hilfslieferungen, die hereinkamen. Ein Warlord, der wusste, wie man zu Geld kam.

Es gibt zahlreiche Filmaufnahmen aus der Zeit: Orić mit Flagge, Orić auf einem Schimmel, Orić mit einem Patronengürtel. Der muskelbepackte Mann tat so, als würde er alles dafür geben, damit die Enklave nicht an die serbischen Einheiten fiel: "Solange einer von uns am Leben ist und sich hier bewegt, werden wir unter keinen Umständen hier weggehen, und sogar danach werden unsere Geister hier bleiben“, kündigte er an. Als es hart auf hart ging, ließ Orić sich aber mit dem Helikopter im Mai 1995 aus der Enklave rausfliegen und ließ "seine Stadt" im Stich. Viele seiner Soldaten waren noch vor Ort. Und viele von ihnen kamen zwei Monate später ums Leben.

Schafe und Wölfe

Heute stilisiert er sich als Schafzüchter, der sich auch einen Wolf hält. Von nationalistischen Bosniaken wird er als Held verehrt, sie nennen ihn den "Che Guevara von Bosnien". In Sarajevo sind an den Häuserwänden zahlreiche Zettel zu sehen, auf denen seine Freilassung gefordert wird.

Für die serbischen Familien rund um Srebrenica ist die Verhaftung von Orić wiederum eine Erleichterung. Sie hoffen darauf, dass es zur Aufklärung der Verbrechen kommt. Bislang haben europäische Staaten Bosnier, die wegen eines serbischen Haftbefehls gesucht wurden, aber nicht an Serbien ausgeliefert. Die bosnische Staatsanwaltschaft verlangt, dass Orić in sein Heimatland ausgeliefert wird – und nicht nach Serbien. Aufgrund der Politisierung der Angelegenheit ist es ohnehin unwahrscheinlich, dass es in Serbien oder in Bosnien-Herzegowina zu einem transparenten Verfahren kommt.

Als Orić 2008 wegen illegalen Waffenbesitzes und Erpressung in Sarajevo festgenommen wurde, ließ er sich von einem Psychiater ein Attest ausstellen, das "bestätigte", dass Orić an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und deshalb Waffen trage. Orić wurde auch zusammen mit dem mittlerweile geschnappten Mafioso Naser Kelmendi gesehen. Vom Vorwurf der Erpressung wurde er freigesprochen. Nun liegt der Ball wieder bei der bosnischen Staatsanwaltschaft.(Adelheid Wölfl, 26.6.2015)