Im innereuropäischen Streit um die zunehmende Zahl von Flüchtlingen, die auf Schutz in der Union der Menschenrechte hoffen, geht es derzeit Schlag auf Schlag. So rasch und oft scheinbar alternativlos, dass man versucht ist, von wildem Umsichschlagen zu sprechen.

In Italien weigern sich immer mehr Gemeinden, Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen, die – nachdem sie ihre gefährliche Seereise übers Mittelmeer überlebt haben – aus dem Süden in Richtung Norden streben. Frankreich hat die Grenze zu Italien für diese Menschen schon vor Tagen zugemacht. Daher campieren sie in und um den Ort Ventimiglia, ebenso wie allenthalben in Italiens Bahnhöfen. Auch Tschechien hat die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen verstärkt.

Zudem kommt aus einem Unionsmitgliedsstaat nach dem anderen Ablehnung der prinzipiellen Einigung der EU-Regierungschefs, die ankommenden Flüchtlinge laut Vorschlag der Kommission per Quote gerechter aufzuteilen. Was diese nationalen Nein-Sager eint, ist, dass sie bisher nur wenige Flüchtlinge aufgenommen haben. Doch wie es den Schutzsuchenden in den belasteten bis überforderten Staaten geht, ist ihnen aus egoistischen Motiven offenbar egal. Ebenso, was es für Europa bedeutet, wenn in den besonders geforderten Ländern die Ängste und Anti-Ausländer-Ressentiments der Einheimischen die Politik mehr und mehr bestimmen.

Und nun auch noch Ungarn, das von Viktor Orbán autoritär regierte Land. Ein Land an der EU-Außengrenze, wo die Asylantragszahlen besonders stark gestiegen sind, von 2.455 Ansuchen im ersten Quartal 2014 auf 32.810 Ansuchen im gleichen Zeitraum 2015. Wo man trotzdem – oder, im Sinne rechtslastiger Propaganda: gerade jetzt – ein "Ende der Multikulti-Ära" dekretiert und Plakate affichiert, auf denen beispielsweise des Ungarischen unkundige Flüchtlinge in der Landessprache gewarnt werden, den Einheimischen die Arbeit wegzunehmen.

Dass man in Orbán-Ungarn die EU (deren Mitglied man immerhin ist) gern provoziert, ist bekannt. Da passt es gut ins Bild, dass in Sachen Asyl nun mit der Suspendierung von EU-internen Asylwerber-Rücknahmen laut der Dublin-III-Verordnung ein Schritt erfolgte, der den ohnehin wankenden Zusammenhalt der EU in Flüchtlingsfragen weiter erschüttert.

Diese Vorgangsweise ist unsolidarisch und inakzeptabel. Wer Mitglied eines Klubs ist und es bleiben will, darf die geltenden Regeln nicht einseitig außer Kraft setzen. Insofern erfolgen die harschen Antworten aus Brüssel völlig zu Recht. Und auch die Proteste aus Österreich und Deutschland sind nachvollziehbar und richtig.

Dennoch greift derlei Gegenwehr allein zu kurz. Denn sowohl Brüssel als auch Wien und Berlin geht es nur um die Einhaltung der Dublin-III-Verordnung: eines Abkommens, das sich für den Umgang mit Flüchtlingen in Europa als ungeeignet herausgestellt hat. Weil es den EU-Außengrenzstaaten die Hauptverantwortung für Asylverfahren aufbürdet und Schutzsuchende in seinem Namen kreuz und quer durch Europa geschickt werden.

Daher gilt es gerade jetzt, weiterzudenken, über den Horizont der Dublin-Verordnung hinaus. Das Ziel, Ungarn wieder zur Rücknahme von Asylwerbern zu bewegen, greift zu kurz. Was es braucht, ist ein flüchtlingspolitischer Neubeginn in der EU. Die Quotendurchsetzung wäre diesbezüglich ein Anfang. (Irene Brickner, 24.6.2015)