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Die Konföderiertenflagge der Südstaaten gilt vielen als Symbol der Unterdrückung. Laut US-Verfassung kann sie nicht verboten werden.

Foto: AP / Rainier Ehrhardt

STANDARD: Was ist das Massaker von Charleston für Sie als Historiker? Ein Akt des Terrorismus oder ein Hassverbrechen?

Chase: Es wäre ein großer Fehler, von einem Verbrechen aus Hass allein zu sprechen. Die Leute denken dann sofort, es handelt sich um einen paranoiden Einzeltäter. Dylann Roof dagegen greift weit in die Geschichte zurück, um seine Tat zu begründen, wie man in dem Manifest lesen kann, das er ins Internet gestellt hat. Er identifiziert sich mit den verlorenen Bürgerkriegsschlachten der Südstaaten, mit der Sehnsucht nach dem alten, aristokratischen, angeblich besseren Süden. Wir kennen dutzende Fotos, die ihn an historischen Stätten zeigen, darunter Sullivan's Island, wo einmal 60 Prozent aller für Nordamerika bestimmten Sklaven amerikanischen Boden betraten. Er hat offenbar ein feines, wenn auch völlig pervertiertes Gespür für Geschichte.

STANDARD: Schwer zu verstehen, dass solche Gedankenmodelle auch 150 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch Bedeutung haben.

Chase: Solche Ideologien kommen immer dann zum Vorschein, wenn Afroamerikaner ihre Stimme erheben. Derzeit protestieren sie unter dem Motto "Schwarze Leben zählen" gegen Polizeigewalt. In den 1950er- und 1960er-Jahren erwachte der Ku-Klux-Klan aus seinem Dämmerschlaf, in den er seit den 1920er-Jahren gefallen war, nachdem das Oberste Gericht gemeinsamen Schulklassen von Schwarzen und Weißen den Weg gebahnt hatte. Damals brannten im Süden mehr als 300 afroamerikanische Kirchen. Höhepunkt war 1963 der Sprengstoffanschlag auf ein Gotteshaus in Birmingham, Alabama, bei dem vier Mädchen getötet wurden.

STANDARD: Ist das Massaker von Charleston eine Wiederholung dieser Geschichte?

Chase: Ich glaube, wir sind mitten in einer neuen Bürgerrechtsbewegung, auf die Roof auf pervertierte Art reagiert: mit roher Gewalt, so wie das schon immer geschah.

STANDARD: Eine Bewegung gegen Exzesse der Polizei ...

Chase: Es geht um mehr. Für weiße Amerikaner sind Waffen Symbole der Freiheit. Für schwarze Amerikaner sind sie Symbole für Mord, sei es 1968 an Martin Luther King, sei es 2012 an Trayvon Martin, dem Teenager, der von dem freiwilligen Wachmann George Zimmerman erschossen wurde. Noch immer wirkt das Erbe der Lynchmorde nach, als weiße Bürger nach eigenem Gutdünken entschieden, dass jemand sterben musste, wohl wissend, dass ihnen von Staats wegen nichts drohte.

STANDARD: Ist das der lange Schatten der Sklaverei, von dem Barack Obama spricht?

Chase: Ich gehe sogar weiter. Das ist der lange Schatten, den der Rassismus in den USA bis heute wirft. Zwar haben wir Obama zum Präsidenten gewählt, aber wir stellen bei einem Zwanzigstel der Weltbevölkerung ein Viertel aller Gefängnisinsassen der Welt. Über die Hälfte der Häftlinge sind Afroamerikaner oder Latinos. Während der jüngsten Rezession stieg die Arbeitslosigkeit unter weißen Amerikanern auf acht bis neun Prozent, unter schwarzen auf 18 bis 20 Prozent. Wir sind bei Weitem nicht farbenblind, auch wenn wir uns das immer einreden, weil wir uns dem Mythos nach für eine Ausnahmenation halten.

STANDARD: Wie sehen Sie den Konflikt um die Konföderiertenflagge der Südstaaten?

Chase: Diese Flagge ist nicht nur ein Symbol, das vor 150 Jahren im Bürgerkrieg benutzt wurde. Auch der Ku-Klux-Klan hisste sie. Wer sich ihrer bedient, gibt Afroamerikanern zu verstehen, dass er ihnen Schaden zufügen will, wo immer er kann. Sie zu verbieten, wie es in Deutschland mit dem Hakenkreuz geschah, wäre nach unserer Verfassung nicht möglich. Aber vor einem Parlament, wie in South Carolina, hat diese Flagge nichts zu suchen. (Frank Herrmann, 24.6.2015)