Graz – Am Sonntag, dem Tag nach der Amokfahrt eines 26-Jährigen durch Graz, bei der drei Menschen getötet und weitere 36 zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, steht die Stadt weiterhin unter Schock. In die Herrengasse und zum Hauptplatz (siehe Grafik) haben Menschen tausende Kerzen und Blumen gebracht. Vor der Stadtpfarrkirche, bei der ein Vierjähriger ums Leben gekommen ist, legen Kinder Stofftiere ab. Gleichzeitig herrscht eine unheimliche Ruhe in der Innenstadt. An der Burg und am Rathaus wurden schwarze Fahnen aufgezogen, von der Stadt wurde ein Online-Kondolenzbuch eingerichtet.

Der 26-Jährige, der mit seinem Anschlag die Gemütslage der Stadt binnen fünf Minuten verändert hat, ist noch immer nicht in der Verfassung, um formal einvernommen zu werden, wie der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Christian Kroschl, dem STANDARD am Sonntag sagt.

Kerzenmeer in der Grazer Innenstadt.
Foto: Walter Müller

Pflichtverhör am Montag

"Das Pflichtverhör durch den Haftrichter ist für Montagvormittag geplant." Die Überstellung in die Justizanstalt Jakomini soll Sonntagabend erfolgen. "Er dürfte eine schwere Psychose haben, ein psychiatrischer Gutachter ist schon bestellt", sagt Kroschl. Der Festgenommene war aber bis Sonntag nicht einmal fähig, einer behandelnden Ärztin gegenüber Angaben machen zu können. Er soll auch weiterhin extrem aggressiv gewesen sein.

Vorerst kann daher über das Motiv des Mannes nur spekuliert werden. Der Twen, der außerhalb von Graz lebte, war amtsbekannt, da er vor wenigen Wochen wegen häuslicher Gewalt von seiner Frau und den beiden Kindern aus der Wohnung weggewiesen wurde. Seine Frau ging danach nach Bosnien und soll mittlerweile die Scheidung eingereicht haben.

Einen möglichen Hinweis gibt es: Nachdem er vor der Polizeiinspektion Schmiedgasse festgenommen wurde, soll der Mann erklärt haben, er fühle sich von Türken verfolgt, sagt Staatsanwaltschaftssprecher Kroschl.

"Bisher nicht viel gesagt"

Der mutmaßliche Täter ist österreichischer Staatsbürger und kam im Alter von vier Jahren – während des Krieges – aus Bosnien. Damals war "Turci" (Türken) ein Schimpfwort für alle bosnischen Muslime. "Man muss das sicher noch hinterfragen, aber derzeit ist noch nicht davon auszugehen", so Kroschl, "es bleibt abzuwarten, ob er überhaupt etwas sagen wird. Bisher hat er nicht viel gesagt."

Landespolizeidirektor Josef Klamminger betonte bei einer Pressekonferenz am Samstag mehrmals: "Ich möchte eindeutig und klar feststellen: Es handelt sich hier nicht um eine politische oder extremistische Aktion."

Vor allem FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache beeindruckten solche Aussagen offenbar wenig. Unter Verweise auf Boulevardmedien, die den Verdacht eines islamistischen Terroranschlags heraufbeschworen, spekulierte Strache auf Facebook: "Der Täter ist aus Bosnien. Ein religiös begründetes Attentat wird nicht ausgeschlossen!"

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Mitarbeiter des Kriseninterventionszentrums Graz sind im Dauereinsatz.
Foto: APA/ELMAR GUBISCH

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In der Nacht auf Sonntag stellten die Trauernden Kerzen in der Grazer Innenstadt auf.
Foto: APA/Gubisch

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Das Fahrzeug des Amokfahrers wurde von der Polizei abtransportiert.
Foto: AP/Zak

Gezielte Messerattacke

Wenn man sich die Opfer genauer ansieht, scheint die Vorstellung einer Attacke aus islamistischen Motiven ziemlich absurd. Denn während der Mann auf seiner Hochgeschwindigkeitsfahrt durch die Innenstadt wahllos in Menschengruppen hineingefahren ist, gab es auch eine gezielte Messerattacke auf ein Paar, für die er seine Fahrt in der Grazbachgasse für kurze Zeit unterbrochen hatte: Die Frau trug ein Kopftuch. Sie wurde leicht, der Mann schwer verletzt.

Das erste Paar, auf das der Mann – zufällig vor den Augen des noch Stunden später schockierten Bürgermeisters Siegfried Nagl (ÖVP) – gezielt zuraste, war ebenfalls ein junges, aus Bosnien stammendes muslimisches Paar, das erst kürzlich geheiratet hatte. Der Mann ist tot, die Frau liegt im Koma.

Die Grazer Innenstadt am Samstagabend.

Um das getötete Kind, einen Buben, der heuer fünf geworden wäre, trauert laut Stadtpfarrprobst Christian Leibnitz, der am Samstagabend den Gedenkgottesdienst in der Stadtpfarrkirche abhielt, nachdem er mit dem Vater stundenlang Wache am Leichnam des Kindes gehalten hatte, eine bulgarische Familie.

Die Identität der etwa 25-jährigen Frau, die wie der Bub in der Nähe der Kirche getötet wurde, war am Sonntag immer noch nicht geklärt: "Es wird angenommen, dass sie eine Bettlerin war, wir wissen aber nicht, woher", sagt Kroschl. Die Kirche ist einer der Tatorte, die Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) am Sonntag besucht hat. Die sichtlich bewegte Ministerin legte dort zwei weiße Rosen nieder.

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Innenministerin Johann Mikl-Leitner zeigt in der Grazer Innenstadt ihre Anteilnahme.
Foto: APA/ELMAR GUBISCH

Hilfe für Kinder

Die Stadtregierung hielt am Sonntagnachmittag einen Krisengipfel mit den Einsatzkräften, dem Kriseninterventionsteam (KIT) und anderen Organisationen ab. Im Anschluss daran informierten Bürgermeister Nagl und fast alle Stadträte über die weiteren Schritte, die für die nächste Tag geplant sind. Man müsse nun Trauerarbeit leisten, um irgendwann wieder zu einem normalen Alltag zurückzukommen, so Nagl: "Aber viele wird das, was sie gesehen haben, ein Leben lang begleiten."

Krisensitzung in Graz.
Foto: Schmidt/STANDARD

Ab Montag will die Stadt zusätzliche Kriseninterventionsteams für Geschäftsleute und Mitarbeiter der Innenstadtgeschäfte bereitstellen. Auch für Kindergärten und Schulen sollen sie zur Verfügung gestellt werden. Tausende Menschen dürften die Amokfahrt als Zeugen miterlebt haben, darunter viele Kinder.

Auch die mögliche Prävention ist ein Thema: Künftig soll bei Wegweisungen die Männerberatungsstelle verstärkt involviert werden. "Wir haben gehört, dass gerade bei Wegweisungen die Gewaltbereitschaft bei Männern noch oft steigt", so der Bürgermeister.

Trauerarbeit und Trauerzug

Die Trauer von Graz ist auch sichtbar: Bei allen öffentlichen Gebäuden wird schwarz ausgeflaggt, an den Stadteinfahrten werden die Ortstafeln ein Trauerflor tragen. Alle städtischen Veranstaltungen der nächsten Woche wurden abgesagt.

Ein Kondolenzbuch wurde im Grazer Rathaus aufgelegt.
Foto: Colette M. Schmidt

Zur Kritik, die in Foren laut wurde, weil ein in der Stadthalle am Samstag gefeiertes Holi-Festival nicht abgesagt wurde, stellte Nagl fest: "Das war eine bewusste Entscheidung. Da waren 6000 großteils Jugendliche, die in die Stadt geströmt wären." Dabei seien nicht einmal die Straßenbahnen gefahren. Man habe die Veranstaltung daher verkürzt, aber nicht sofort abgebrochen.

Am kommenden Sonntag soll es ab 18 Uhr einen Trauerzug mit allen Religionsgemeinschaften geben – man wird die Route, auf der die Amokfahrt stattfand, gemeinsam abgehen. Danach gibt es eine Trauerfeier beim Rathaus am Hauptplatz. In unmittelbarerer Nähe hatte die Fahrt ihr trauriges Ende gefunden. (Colette M. Schmidt, 21.6.2015)