Graz – Der ramponierte grüne Geländewagen steht wie ein Geisterfahrzeug vor dem Polizeiwachzimmer in der Schmiedgasse. An der Beifahrerseite hängt ein leichter weißgrauer Damenschal, unter dem Auto baumelt ein Turnschuh. Ein Scheinwerfer leuchtet noch hinter dem zerquetschten Blech heraus. Wo der Wagen steht, ist es still, die Straße am Anfang und Ende abgesperrt. Es ist kurz nach halb zwei am Samstagnachmittag und ein Beamter warnt den STANDARD und einen Kollegen vom ORF, nicht zu nahe ran zu gehen: "Wir wissen noch nicht, was da sonst drinnen ist."

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Der Geländewagen des Amokfahrers.
Foto: AP/Zak

Die Parallelstraße der Schmiedgasse ist die wichtigste Einkaufsstraße mit Fußgängerzone der Stadt: die Herrengasse. Hier spielte sich nur eineinhalb Stunden zuvor die Hölle ab. Der Fahrer des Geländewagens raste mit rund 100 kmh die Straße, die den Jakominiplatz und den Hauptplatz verbindet hinunter – offenbar auf der Jagd nach Fußgängern. Die Straße war voll, es war ein sonniger Samstag, viele Menschen saßen in den Straßencafés.

Drei Tote sind bestätigt. Ein Todesopfer ist ein fünfjähriger Bub, ein 28-jähriger Mann und eine 25-jährige Frau. 34 Menschen wurden verletzt, davon waren am Samstagabend noch immer sechs Personen in Lebensgefahr.

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In der Innenstadt bot sich ein Bild wie nach einem Anschlag, der Hauptplatz und die Herrengasse wurden großräumig abgesperrt.
Foto: APA/ELMAR GUBISCH

Der Mann raste aber schon am anderen Murufer im Bezirk Gries los. Der Lenker hatte schon zuvor auf seiner Fahrt mehrere Fußgänger niedergestoßen. Laut Stadtpolizeikommandant Kurt Kemeter tauchte der 26-jährige mit seinem Wagen erstmals gegen 12.15 Uhr in der Zweiglgasse auf das Gaspedal: "Er beschleunigte bis zur Kreuzung mit der Lagergasse, fuhr auf den Gehsteig und rammte zwei Personen, wobei eine davon getötet wurde."

Anschließend fuhr der Täter Richtung Augartenbrücke und wollte auf Höhe der dortigen Synagoge einen weiteren Fußgänger anfahren. Die Person konnte sich aber hinter einer Säule in Sicherheit bringen und wurde nur leicht verletzt. Danach raste der Lenker weiter in die Grazbachgasse, wo ein Paar aus einem Geschäft nahe einer Grünanlage kam. Er hielt an, sprang aus dem Auto und attackierte beide mit einem Messer. Dabei wurde der Mann schwer, seinen Freundin leicht verletzt.

Nach weiteren Attacken und Kollisionen in der Schlöglgasse und am Opernring lenkte er schließlich in die Herrengasse ein und fuhr diese "mit hohem Tempo" hindurch, erfasste dabei mehrere Personen, wobei zwei getötet wurden. Zudem krachte der Lenker in einen Schanigarten, wo er acht Menschen verletzte. Schließlich hielt der Täter nahe der Polizeiinspektion in der Schmiedgasse an und gestand eine "Auseinandersetzung mit einem Messer", er habe gesagt, er möchte sich stellen.

In denselben Minuten, einige hundert Meter entfernt, landete ein Rettungshubschrauber am Rasen vor der Grazer Oper. In der Nähe des Operncafes hatte der Amokfahrer ebenfalls Passanten mit seinem Auto attackiert. Der Mann fuhr anschließend mit seinem Geländewagen in die Hamerlinggasse und weiter in die Herrengasse.

In der Innenstadt bot sich ein Bild wie nach einem Anschlag, der Hauptplatz und die Herrengasse wurden großräumig abgesperrt, weinende Menschen lehnten den Hauswänden, auf der Straße lag ein zerbeultes Kinderfahrrad. Die Amokfahrt durch mehrere Straßenzüge in der Innenstadt hat fünf Minuten gedauert. Danach stellte sich der Täter.

"Ich war gerade in der Apotheke in der Herrengasse Ecke Stempfergasse, berichtet eine junge Studentin dem STANDARD, "plötzlich habe ich nur mehr Schreie gehört, wir sind hinausgelaufen und haben Menschen herum liegen sehen, der Wagen ist Richtung Hauptplatz weitergerast". Auf Höhe Murgasse soll der Wagen dann laut einer Augenzeugin der APA ins Schleudern gekommen sein.

Die Rettungskräfte aus der gesamten Region wurden in Graz zusammengezogen.
Standard/Schmidt

Der Mann ist ein 26-jähriger Kraftfahrer mit österreichischer Staatsbürgerschaft und "bosnischem Bezug" aus dem Bezirk Graz-Umgebung, der bereits zuvor "als gewaltbereit in Erscheinung getreten" sei, sagte Landespolizeidirektor Josef Klamminger bei einer Pressekonferenz am späten Nachmittag. Der Mann ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er wurde nach häuslicher Gewalt am 28. Mai von seinem Wohnsitz weggewiesen. Laut Polizei werden politische, religiöse oder extremistische Motive aufgrund seiner Vorgeschichte ausgeschlossen. Es handelte sich um einen Einzeltäter, wobei nun ein psychologisches Gutachten eingeholt werde, sagte Klamminger.

In den beiden Stunden danach wurde es immer ruhiger in der Herrengasse. Nur die Sirenen von Polizeiautos und Krankenwagen verstummten nicht. Und überall stehen betroffene Menschen. Schweigend oder weinend oder sie erzählen sich leise, was sie gehört oder gesehen haben.

Als der STANDARD in den abgesperrten Bereich der Herrengasse kommt, ist sie abgesehen von Beamten und Medienleuten menschenleer. Nur vor der Stadtpfarrkirche fällt ein weißer Sonnenschirm auf, dann ein zweiter einige Meter weiter Richtung Hauptplatz. Unter ihnen liegen mit weißen Tüchern zugedeckt Körper. Das Handynetz brach zwischenzeitlich zusammen, Innenstadtbewohner riefen sorgenvoll Verwandte, Bekannte und Freunde an.

Krisenstab eingerichtet

"Wir sind alle gefordert, das Miteinander zu suchen und Gräben nicht aufzubauen, so der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer in einer Pressekonferenz am Samstagnachmittag. Sein Stellvertreter Michael Schickhofer (SPÖ) sagte: "Es tut unendlich weh, für mich als Familienvater nicht zu fassen, was hier passiert ist. Es wurde alles getan, um die Verletzten sofort zu versorgen." Die Versorgungskette habe funktioniert, 84 Rettungswägen, Ärzte, die als Passanten unterwegs waren, halfen sofort. Vier Hubschrauber waren im Einsatz, die Verletzten wurden in Spitäler in Graz, Klagenfurt und Oberwart gebracht. Die Kriseninterventionsteams waren und sind im Einsatz.

Nagl: "Ich konnte ausweichen"

Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl, der den Tag als den "traurigsten Tag für Graz" bezeichnete, war selbst im Visier des Mannes, der auf seiner Amokfahrt drei Menschen tötete. Er sieht bei der Pressekonferenz sichtlich mitgenommen aus.

Nach der Pressekonferenz erzählte er dem STANDARD von den traumatischen Erlebnissen: "Ich war in der Zweigelgasse mit meiner Vespa unterwegs als es einen furchtbaren Kracher gemacht hat. Ich hab nur gedacht: ein Unfall! Dann hab ich aber gesehen wie das Auto den Linienbus auf dem Gehsteig überholt hat und direkt auf ein Paar zugerast ist. Die beiden sind durch die Luft gewirbelt worden. Er war sofort tot. Dann ist er weiter gefahren, auf die nächste Person zu, die hatte Glück, das sie eine Betonsäule geschützt hat. Auf mich ist er auch losgefahren, ich hab sein verbissenes Gesicht gesehen, das war ein Wahnsinn. Ich konnte ausweichen. Dann hab ich gehofft er fahrt in Richtung Autobahn raus aus der Stadt, aber er ist in die Stadt gefahren ...." Dem Bürgermeister kommen kurz die Tränen.

Er habe dann "sofort die Polizei angerufen, mir war klar, das war kein Unfall. Es war wahnsinnig schnell ein Sanitäter da und die Rettung. Man hat versucht der Frau des Paares zu helfen. Aber sie hat schon so einen Blick gehabt .... Und überall war Blut." Auf die Frage, ob auch er sich vom Kriseninterventionszentrum betreuen ließ, winkt Nagl mit zittriger Hand ab, "es geht schon, ich werde hier gebraucht. Ich hab schon einmal so etwas Ähnliches in New York erlebt. Ich habe Glück gehabt."

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Foto: APA

"Graz trägt Trauer"

Am Abend fand in der Stadtpfarrkirche ein Gedenkgottestdienst unter Beteiligung der Landesregierung statt. Stadtpfarrpropst Christian Leibnitz hatte einen schweren Tag. Zwei Stunden hatte er mit dem Vater des fünfjährigen Buben, der am Samstag in der Herrengasse in unmittelbarer Nähe der Stadtpfarrkirche getötet wurde, Wache gehalten – neben dem Leichnam des Kindes. Das erzählte er bei dem Gedenkgottesdienst um 18.00 in der Stadtpfarrkirche, zu dem spontan 600 Menschen kamen. Unter ihnen auch fast die gesamte Landesregierung, Bischof Wilhelm Krautwaschl und der Apostolische Nuntius Erzbischof Peter Stephan Zurbriggen. Auch ein orthodoxer Pfarrer ist gekommen, da die bulgarische Familie des jüngsten Todesopfers der Amokfahrt orthodoxe Christen sind. Mit einem Text Martin Gutls, in dem es heißt, "Ich werde nicht sterben, liebe Mutter, lieber Vater, nicht wie ein Bach in der Wüste versickern, ich werden die Grenzen durchbrechen, ich werde ein neues Ufer erreichen", versucht Leibnitz Trost zu spenden. Viele Menschen in der Kirche weinen, reichen sich gegenseitig Taschentücher. Dann bittet der Stadtpfarrprobst die Anwesenden, zum Altar vor zu kommen und eine Kerze anzuzünden. Viele kommen dieser Bitte nach.

Draußen, direkt vor der Kirche, hat die Stadt derweil einen Ort geschaffen, wo Trauernde hinkommen können, Blumen niederlegen oder Kerzen anzünden können. Junge Mädchen halten sich im Arm um weinen bitterlich, erwachsene Männer wischen sich die Tränen weg, die Blumen und Lichter vermehren sich schnell. Nach der Messe stehen hier schon hunderte Menschen. Die Stadt Graz hat auch online ein Kondolenzbuch eingerichtet.

Bundesregierung, Bundespräsident, Parteichefs und oberste Kirchenvertreter verurteilten die Amokfahrt. Auf Facebook und Twitter zeigten Menschen ihre Anteilnahme. "Graz trägt Trauer. Unsere Gedanken sind bei den Opfern der Amokfahrt in der Herrengasse", hieß es auf einem Bild, das viele teilten.

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Foto: FOTO: APA/ELMAR GUBISCH

Tausende Grazer bei "Kerzenmeer"

Mehrere Tausend Menschen sind schließlich am Samstagabend dem Facebook-Aufruf eines Grazers gefolgt, der zum "Kerzenmeer" aufgerufen hatte. Mit unzähligen Lichtern, die vor allem vor der Stadtpfarrkirche in der Herrengasse abgestellt wurden, drückten die Teilnehmer Trauer und Beileid aus. Unter ihnen waren auch Angehörige eines Opfers der Amokfahrt von Samstagmittag.

Der 28-jährige "Adis" war gegen Mittag zusammen mit seiner offenbar frisch angetrauten Frau in Graz spazieren und beide wurden vom Täter niedergefahren. Der Mann starb noch an der Unfallstelle, seine Frau liege im Koma: "So endet das junge Glück", sagte eine der Angehörigen zu Journalisten. Sie zeigten Hochzeitsfotos des jungen Paares, das erst vor zwei Wochen geheiratet habe.

Foto: Müller

Die meisten anderen Teilnehmer stellten sich schweigend um die Kerzen auf, bis die Herrengasse zu einem Gutteil gefüllt war. Die Straßenbahnen mussten daher zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Fahrten unterbrechen und warten. Auch am Hauptplatz wurden Kerzen aufgestellt und den Opfern gedacht. (cms, mue, koli, seb, flon, APA, 20.6.2015)