Michael Hauch
Kindheit ist keine Krankheit

Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen. Ein Kinderarzt empört sich.
Fischer 2015
317 Seiten, 15,50 Euro

Foto: fischer verlag

"Warum kann es denn noch immer nicht laufen?", "Guck mal, wie es den Löffel hält! So verkrampft! und "Normalerweise können alle in dem Alter schon Zweiwortsätze sprechen" – mit diesen und ähnlichen elterlichen Beschwerden wurde der deutsche Kinderarzt Michael Hauch in seiner Ordination ständig konfrontiert.

Bis er irgendwann bemerkte, dass es sich dabei nicht um einzelne, besonders ängstliche Eltern handelt, sondern um eine gesellschaftliche Hysterie, als Elternteil einen vermeintlichen Rückstand seines Kindes nicht rechtzeitig zu entdecken. Hauch, seit mehr als 20 Jahren Kinderarzt, bekundete in einem FAZ-Artikel ("Lasst die Kinder in Ruhe!") seinen Unmut und schrieb nun sein erstes Buch: "Kindheit ist keine Krankheit".

Lauter Patienten

"Aus einem Mädchen, das mit zwei Jahren nicht mindestens fünfzig Wörter deutlich artikuliert, wird eine Patienten mit Sprachentwicklungsstörung, aus einem wilden Jungen, der im Kindergarten manchmal andere Kinder umrennt, ein Patient mit sensorischer Integrationsstörung oder späterer ADHS-Patient", schreibt Hauch.

Doch anstatt ihren Kindern zu helfen, würden besorgte Eltern ihnen jede noch so kleine Eigenheit rauben, wenn sie übertrieben fürsorglich und ängstlich sind. Stattdessen brauche es Mut und Vertrauen: "Zu uns selbst, zu unseren Kindern, zum Leben."

Es ist etwa ganz normal, dass manche Babys empfindlicher auf Irritationen reagieren als andere – und bei einer Reizüberflutung schnell überfordert sind (Diagnose: "Regulationsstörung"). Seit jeher wollte man "hyperaktiven" Kindern mit diversen Therapien beikommen, wie Bachblüten, Schüßler Salze, Bioresonanz, Tomatis-Therapie oder der Petö-Therapie. Und seit jeher ist höchst umstritten, ob und wann eine Behandlung von "Zappelphilipps" überhaupt notwendig ist.

"Neue Kinderkrankheiten"

Hauch berichtet, dass er am Anfang seiner ärztlichen Tätigkeit vor 25 Jahren vor allem akute Erkrankungen wie Halsschmerzen, Schnupfen und Ausschlag behandelte, heute aber mehr und mehr besorgte Eltern von eigentlich gesunden Kindern in seine Ordination kommen.

Den Anfang nahm diese Entwicklung in den 1990er-Jahren, als die American Academy of Pediatrics vermeldete, dass Entwicklungs- und Verhaltensstörungen zu den neuen "epidemischen" Herausforderungen zählen werden. Bald war der Begriff der Neuen Kinderkrankheiten geprägt. "Neu waren die Störungen natürlich nicht. Neu war nur, dass sie sich augenscheinlich wie eine Epidemie verbreiteten und dass die überhaupt als Krankheiten gesehen wurden und bald die Arbeit der Kinderärzte bestimmten", heißt es im Buch. Tatsächlich seien unsere Kinder heute gesünder denn je.

Allgegenwärtige Angst

Auf mehr als 300 Seiten beschreibt Hauch, warum es schlecht ist, dass Kleinkinder ständig irgendwelchen Leistungs-Tests ausgesetzt werden, warum die Diagnose "ADHS" oft voreilig gestellt wird und inwiefern ein halbes Jahr Altersunterschied einen enormen Unterschied in der Entwicklung eines Kindes machen kann.

Er erklärt, inwieweit Krankenkassen und Gesundheitssystem in das Problem verstrickt sind ("besser zu viel therapiert als zu wenig"), dokumentiert den Gesinnungswandel von einem grundsätzlichen "Das wächst sich schon noch aus" zu einer allgegenwärtigen Angst vor Behandlungs- und Erziehungsfehlern, und führt aus, warum der ICD-Diagnoseschlüssel, der Krankheiten systematisch klassifiziert und voneinander unterscheidet, zwar praktisch und notwendig, aber keineswegs immer treffsicher ist.

Man merkt Hauchs langjährige Erfahrung und eine kritische Distanz zum Thema – anders als der reißerische Untertitel ("Ein Kinderarzt gegen den Therapie-Terror") vermuten lässt, ist das Buch nüchtern und sachlich gehalten, zitiert viele Studien. Und auch wenn Hauch sich mit seiner Kritik auf Deutschland (626.000 Kinder mit Diagnose ADHS) bezieht: Das Problem ist hier wie dort dasselbe – und es wird immer größer. Gut, dass es nun so fundiert aufgegriffen wird. (Florian Bayer, 28.6.2015)