Im zweiten Jahr der insgesamt dreijährigen Festwochen-Intendanz von Markus Hinterhäuser blieb Frank Castorf mit "Die Brüder Karamasow" eine verlässliche Größe (Bild: K. Angerer, M. Hosemann).

Foto: Aurin/Festwochen

Wien – Zum Denkbild hat Wiens größtes Kulturfestival heuer das Labyrinth erhoben. Das kreisrunde Exemplar eines Irrgartens schmückte den Festwochen-Katalog. Wer wollte, konnte während einer der vielen überlangen Aufführungen den Bleistift zücken und sich eigenhändig auf die Suche nach dem (unsichtbar bleibenden) Minotaurus begeben. Das von den Festwochen in Aussicht gestellte Hilfsmittel nahm sich eher bescheiden aus. Ein Knäuel Spagat zierte verschämt die tintenblaue Buchrückseite.

Der Hinweis auf die Kraft mythologischer Erzählweisen kam nicht von ungefähr. Das diesjährige Festwochen-Programm hätte kein noch so begabter Homer auf eine einprägsame Formel herunterzubrechen vermocht. Hingegen gelang es Intendant Markus Hinterhäuser und seinem Team, eine schier unerschöpfliche Menge an Verbindungslinien zu ziehen. Wohl und Wehe der Institution hängt nach wie vor vom Zustand der Bühnenkünste ab. Das nobelste Anliegen der Festwochen bleibt die Abbildungsfunktion. Geöffnet wird das Tor zur Welt. Dieses ist häufig genug mit der Bühnentür identisch.

Der Fortschritt, oder das, was man früher so nannte, ist in keiner bestimmten Weltecke mehr zu Hause. Wer, um ein altes Hegel-Wort zu gebrauchen, den Sitz des Weltgeistes aufspüren möchte, wird daher um das Eingeständnis einer gewissen Ratlosigkeit nicht herumkommen. Es ist richtig und wichtig, dass sich die Festwochen in dieser Hinsicht nicht klüger dünken, als es der Rest der Welt allem Anschein nach ist.

Schier unerschöpflich war die Menge der Aufführungen, die Schauspielchef Stefan Schmidtke an Land zog. Ein durchgängiges Gelingen wird man darum nicht schon konstatieren wollen. Eine Aufführung wie die der Toten Seelen zeigt die Beliebigkeit auf, mit der man zum Beispiel am Moskauer Gogol-Zentrum die Errungenschaften der Sowjetzeit durch heute gängige Geschmacksverstärker ersetzt. "Realistisches Erzählen" auf der Bühne kommt auch in Osteuropa nicht mehr infrage.

Folgen der Globalisierung

Die um Beifall heischende Marktförmigkeit vieler Produktionen ist die natürliche Folge der Globalisierung. Das Andocken am Festivalzirkus hilft mit, Risiken und Nebenwirkungen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Da gleicht ein Besuch wie der von Frank Castorf und seiner Volksbühne dem Erscheinen eines störrischen Alten. Auch in der Anarchie liegt mittlerweile ein Moment der Verlässlichkeit. Mit der atemberaubenden Theatralisierung von Dostojewskis Brüder Karamasow -Wälzer wurden nicht nur die Sitzmuskeln trainiert, sondern die Herzen und Hirne weit geöffnet. Man musste darum noch nicht zur Orthodoxie überwechseln. Es reichte vollkommen aus, das angeblich "reaktionäre" Denken Dostojewskis mit dem Sendungsbewusstsein der Großmacht Russland in Einklang zu bringen.

Und so springt in der nachträglichen Betrachtung das heimliche Leitmotiv der Festwochen 2015 erst ins Auge. Alles Ringen um die Verbesserung der Welt bleibt bloßes Stückwerk, solange man sich um Fragen der spirituellen Sinngebung herumdrückt. Ein Musiktheaterwerk wie Händels Jephta stellt die Frage nach dem Opfer. Gemeint sind mithin die Kosten, die man für das gedeihliche Funktionieren einer Gesellschaft zu erlegen hat, sei deren Ordnung auch noch so weise eingerichtet und um Gerechtigkeit bemüht.

Angst vorm Fragen

So führte ein kaum wahrnehmbarer Ariadnefaden in der Tat durch Labyrinthe. Oft war die Politik gemeint (wie zum Beispiel in Kings of War), während im Zentrum der Fragestellung die gute, alte Metaphysik stand. Nicht immer fielen die Versuche, Antworten zu geben, ästhetisch befriedigend aus.

Ein Auftragswerk wie Ewald Palmetshofers Edward II. schwindelte sich um den theologischen Glutkern der Frage nach der gerechten Herrschaft aufreizend herum. Auch in Kings of War wurde Shakespeares vertrackte Rhetorik auf das Niveau von Fernsehserien heruntergebrochen. Von manchen wurde auch Romeo Castelluccis furioses Bibeltheater (Go down, Moses) als plumpe Zudringlichkeit empfunden.

Im Beharren auf notwendige Fragen, die man für unangenehm halten kann, liegt das Verdienst der Wiener Festwochen 2015. Das kann auch bedeuten, dass man das Festival 2016 konzentrierter anlegt, als es ohnedies schon ist. Ein bisschen was geht immer. (Ronald Pohl, 19.6.2015)