Sichtbare Zeichen religiöser Identität – exemplarisch ein christlicher Rosenkranz, eine islamische Gebetskette, die Misbaha genannt wird, und ein jüdischer Gebetsschal, der Tallit heißt.

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Politikwissenschafter Ulrich Willems forscht an der Universität Münster interdisziplinär zum Thema Politik und Religion und sagt: "Viele Länder haben großen Nachholbedarf, sich auf die veränderte religiöse Pluralität einzustellen."

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STANDARD: Es taucht immer wieder in der Politik auf: das Abendland, das christliche zumal. In Österreich plakatierte die FPÖ im Wahlkampf "Abendland in Christenhand". In Deutschland marschieren "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida). Aber gibt oder gab es dieses christliche Abendland überhaupt je in der insinuierten Form?

Willems: Ein christliches Abendland im Sinne eines homogenen christlichen Raumes, wie es in diesen Slogans anklingt, gab und gibt es nicht. Das lateinische Christentum hat zwar seit dem frühen Mittelalter West- und Mitteleuropa kulturell und politisch geprägt, aber Europa wurde immer auch durch den politischen, ökonomischen und kulturellen Austausch mit anderen Räumen und Traditionen geprägt, und im Inneren ist Europa nicht durch Homogenität, sondern durch Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz unterschiedlicher religiöser Traditionen gekennzeichnet.

STANDARD: In welcher Form?

Willems: Das gilt für das Nebeneinander von christlichen und heidnischen Formen der Religiosität nach der Christianisierung Europas. Es gilt auch für das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen in vielen Teilen des mittelalterlichen Europa, für die konfessionelle Pluralität nach der Reformation und für das Neben- und Gegeneinander von religiösen und säkularen Kräften seit dem 19. Jahrhundert. Wenn Europa heute durch etwas charakterisiert ist, dann sicher nicht durch eine christlich-abendländische Identität, sondern durch das nicht immer einfache Aushalten von Vielfalt und die Suche nach Möglichkeiten friedlicher Koexistenz.

STANDARD: Wie entstand das Narrativ vom christlichen Abendland, bzw. wie wurde es zum Kampfbegriff, der von verschiedenen Seiten in Stellung gebracht wurde – gegen den Ostblock, gegen den Islam ...?

Willems: Das ist ein relativ altes Narrativ vor allem konservativ-katholischer Kreise und Intellektueller. Es wurde in der Romantik formuliert, im 20. Jahrhundert revitalisiert und spielte im Nachkriegseuropa eine relativ große Rolle. Die zentrale Idee besteht in der Beschwörung vermeintlich gemeinsamer kultureller Wurzeln der europäischen Völker und einer Einheit von Politik und Religion. Gleichzeitig diente es in viele Richtungen zur Abgrenzung, nach 1945 eben nicht nur gegenüber dem Kommunismus, sondern auch gegen westlich-liberale Werte, gegen Säkularisierung, Aufklärung und Moderne. Als Gegenprogramm wurden eine Rechristianisierung und auch eine verstärkte Rolle der christlichen Kirchen in der Politik empfohlen.

STANDARD: Man hat den Eindruck, Europa tut sich besonders schwer mit religiöser Vielfalt. Warum?

Willems: Das hat damit zu tun, dass im Europa der frühen Neuzeit die sich formierenden Nationalstaaten die christlichen Konfessionen als Mittel der politischen Vereinheitlichung und Identitätsstiftung genutzt haben. Das hatte sehr langfristige Folgen. So haben wir bis heute in Nordeuropa mehrheitlich protestantische Gesellschaften, in Südeuropa mehrheitlich katholische; auch die gemischt protestantisch-katholischen Gesellschaften Mitteleuropas hatten lange Zeit konfessionell homogene Regionen. Die Erfahrungen mit religiöser Pluralität waren und sind daher begrenzt. Darum haben viele Länder großen Nachholbedarf, sich auf die veränderte religiöse Pluralität vor allem durch Migration einzustellen.

STANDARD: Dagegen spielt in den USA Glaube oder Religion eine viel stärkere und weniger problematisierte Rolle, auch in der Politik.

Willems: Dort war das Verhältnis von Religion und Politik selbstverständlicher, weil die USA sich lange Zeit als protestantische, später dann christliche Nation "unter Gott" definierten. Heute dagegen beobachten wir auch dort einen massiven Konflikt bezüglich der Rolle der Religion in der Politik. Das ist eine Folge der strikteren Trennung von Staat und Religion seit den 1940er-Jahren, aber auch einer kulturellen und politischen Liberalisierung, für die exemplarisch die Gewährung eines Rechts auf Schwangerschaftsabbruch steht. Um diese Entwicklungen aufzuhalten oder umzukehren, hat sich die christliche Rechte politisch formiert. Die Konflike zwischen konservativen und liberalen religiösen Kräften über Fragen wie Abtreibung, Homosexualität und Geschlechterrollen haben sich inzwischen so zugespitzt, dass manche Beobachter von einem Kulturkampf sprechen.

STANDARD: Sie sehen "Nachholbedarf" in der Religionspolitik. Wo?

Willems: Religionspolitik ist das Politikfeld, in dem es um die Regelung religiöser Praktiken und das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften geht. Die religionspolitischen Regelungen vieler westeuropäischer Länder sind aber nicht für die heutigen religiös pluralen Gesellschaften gemacht. Die Religionspolitik der Gründungsjahre der Bundesrepublik Deutschland zielte vornehmlich auf die Regelung des Verhältnisses des Staats zu den beiden großen christlichen Kirchen. An den Islam hat damals noch niemand gedacht. Zudem gab es in Deutschland das eben erwähnte Projekt einer Rechristianisierung der Gesellschaft. Man war überzeugt, dass die Entstehung des Nationalsozialismus eine Folge der Säkularisierung war. Dementsprechend galt es nun die Gesellschaft zu rechristianisieren. Das bedeutete vor allem, den Kirchen einen möglichst großen Handlungsspielraum in der Gesellschaft einzuräumen. Sie wurden daher privilegiert. Diese Privilegierung steht heute aber einer gleichberechtigten Anerkennung des Islam im Wege.

STANDARD: Häufigste Konfliktthemen sind Kopftuch oder Vollverschleierungsverbot in der Öffentlichkeit, das Politiker in Österreich forderten, Pegida-Demonstranten argumentierten auch mit Schächten. In Deutschland gab es eine recht heftige Debatte über die Beschneidung muslimischer und jüdischer Buben. Wie lassen sich religiöse Praxen integrieren in Gesellschaften, die sich eigentlich als säkular verstehen?

Willems: Man muss bei diesen Konflikten eine Reihe von Motiven in Betracht ziehen. Beim Schächten, aber auch bei der Beschneidung haben wir es zum einen mit altem und neuem Antisemitismus zu tun. Die massive Kritik an diesen Praktiken ist aber auch Ausdruck einer Einstellung, die ich als antireligiöse Militanz oder säkularen Fundamentalismus bezeichne und die sich gegen solche vermeintlich sinnlosen, aber gefährlichen archaischen Riten religiöser Traditionen wendet. Die Abwehr solcher vermeintlich "fremder" religiöser Praktiken kann aber auch eine Gegenreaktion auf die grundlegende Verunsicherung durch Individualisierung und Pluralisierung sein. Und natürlich sind solche Forderungen immer auch ein probates Mittel politischer Mobilisierung. Diese Debatten und ihre große Resonanz beruhen aber auch auf einem Versäumnis der Politik, die die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf diese neue religiöse Pluralität vorbereitet hat. Die CDU etwa hat noch bis vor wenigen Jahren behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland, man müsse sich um diese Probleme also nicht kümmern.

STANDARD: Welche Verantwortung müssen die Religionsgemeinschaften in einer demokratisch verfassten Gesellschaft übernehmen?

Willems: Sie müssen sich, wie es Jürgen Habermas formuliert hat, vor allem selbst auf drei Dinge einstellen: auf einen neutralen, unabhängigen Staat, auf die Autonomie der Wissenschaft und eben auf die religiöse Pluralität. Heute sind die Religionsgemeinschaften vor allem gefordert, intern Lernprozesse mit Blick auf den Umgang mit der religiösen Pluralität in Gang zu setzen.

STANDARD: Wo würden Sie die Grenze für religiöse Freiheit ziehen, etwa wenn jemand sagt, aus Menschen- bzw. Frauenrechtsperspektive bin ich für ein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit? Was darf man verbieten?

Willems: Bevor wir über Grenzen sprechen, muss zunächst daran erinnert werden, dass das Prinzip der Religionsfreiheit ursprünglich den Sinn hatte, eine Lebensführung zu ermöglichen, die sich umfassend an religiösen Grundsätzen orientiert, und da zählen Kleidungs- und Ernährungsvorschriften usw. dazu.

STANDARD: Es gibt aber auch Religionsfreiheit in dem Sinne, dass ich frei von Religion leben möchte.

Willems: Wenn jemand anderer religiösen Bekleidungsvorschriften folgt, schränkt das die eigene Freiheit wohl kaum ein. Insofern ist das vielfach eher Ausdruck einer Unduldsamkeit. In der Debatte über Kopftuch oder Burka wird aber auch vielfach unterstellt, dass dies Ausdruck einer Unterdrückung von Mädchen und Frauen sei. Die Motive für das Tragen dieser Kleidungsstücke sind jedoch sehr vielfältig. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass auch autoritäre Familienstrukturen zu den Ursachen zählen. Aber es ist höchst fraglich, ob ein Verbot des Tragens von Kopftuch und Burka diese autoritären Strukturen aufbrechen kann. Dagegen stellt ein Verbot eine sehr reale und schwerwiegende Beeinträchtigung der Freiheit derjenigen dar, die religiösen Bekleidungsvorschriften aus anderen Motiven folgen. (Lisa Nimmervoll, 5.7.2015)