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Die Polizei sperrte die Straßen rund um den Tatort.

Foto: AP Photo/David Goldman

Dylann R. gab sich den Anschein, als wolle er beten und lernen. Auf den Bildern der Überwachungskameras ist auf die Sekunde genau vermerkt, wann der junge Mann mit der Pilzkopffrisur die Kirche betrat. Am Mittwochabend um 20 Uhr, 16 Minuten und 58 Sekunden. Knapp eine Stunde später ging bei der Polizei der erste Notruf ein: Schüsse in der Emanuel-Kirche!

Der Tatverdächtige muss also, bevor er das Feuer eröffnete, fast eine Stunde lang teilgenommen am Bibelstudium, das an dem Abend auf dem Programm stand. So teilt es der Polizeichef der Stadt Charleston am nächsten Morgen der Presse mit. Geflohen in einem Hyundai, wird der mutmaßliche Schütze kurz darauf rund vierhundert Kilometer entfernt in North Carolina gefasst und vom FBI identifiziert: Dylann Storm R., 21 Jahre alt, wohnhaft in Columbia, der Hauptstadt South Carolinas. Nach Angaben eines Onkels bekam er zum Geburtstag im April von seinem Vater eine Pistole geschenkt.

Reverend schon einmal im Rampenlicht

Eines der neun Opfer ist Clementa Pinckney, der Pfarrer der Kirche an der Calhoun Street, die mitten in der postkartenschönen Altstadt mit ihrer Kolonialarchitektur liegt. Pinckney war zugleich Senator; er saß für die Demokraten im Bundesstaatensenat. R., zitiert der Fernsehkanal NBC News eine Überlebende, soll sich neben den Pastor gesetzt haben. "Ich muss es tun", soll er gesagt haben, während er seine Waffe auf ihn richtete. "Ihr vergewaltigt unsere Frauen und reißt euch dieses Land unter den Nagel. Ihr müsst verschwinden."

Vor zwei Monaten, als tödliche Polizistenschüsse auf einen unbewaffnet Fliehenden für Aufruhr sorgten, spielte der Reverend eine zentrale Rolle bei dem Versuch, die Nerven zu glätten und Lehren zu ziehen. In North Charleston, der Zwillingsstadt der historischen Hafenmetropole, hatte ein weißer Polizist namens Michael Slager den 50-jährigen Afroamerikaner Walter Scott, gestoppt wegen eines kaputten Autorücklichts, mit gezielten Schüssen in den Rücken getötet. Nach Scotts Tod setzte sich Pinckney an die Spitze einer Kampagne, die Polizisten verpflichten wollte, jederzeit Kameras am Körper zu tragen, damit lückenlos aufgezeichnet werden kann, was sie im Dienst tun. Vielleicht sei es kein Patentrezept, aber helfen würde es allemal, argumentierte der Geistliche. Der Einsatz trug Früchte: Seit einer Woche sind "Body Cameras" für die Polizeibeamten South Carolinas gesetzliche Pflicht. Man darf annehmen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Pinckneys politischer Prominenz und dem Massaker in seinem Gotteshaus.

In eine Kirche zu laufen und Menschen beim Gebet zu erschießen, "es ist das hinterhältigste Verbrechen, das man sich vorstellen kann," sagt Joseph Riley, der Bürgermeister von Charleston. Ungewöhnlich für einen Südstaaten-Mayor klingt die Kritik an den lockeren Waffengesetzen, die der Amtsveteran folgen lässt. Er persönlich glaube, "dass es da draußen viel zu viele Kanonen gibt, dass es viel zu leicht ist, an eine Kanone zu kommen". Präsident Barack Obama sagt es noch deutlicher, als er sichtlich erschüttert im Weißen Haus Stellung bezieht. Irgendwann müsse sich Amerika mit der Tatsache auseinandersetzen, dass andere entwickelte Länder "diese Art von Massengewalt", diese Häufigkeit bewaffneter Attacken, nicht kennen. "Es ist wichtig, dass das amerikanische Volk dies irgendwann in den Griff bekommt."

Mit Bürgerrechtsbewegung verbunden

Fest steht wohl, dass sich der Täter die Emanuel African Methodist Episcopal Church nicht zufällig ausgesucht hat. Sie ist mehr als ein Gotteshaus, sie ist ein Symbol, aufs Engste mit der Bürgerrechtsbewegung schwarzer Amerikaner verbunden. "Mother Emanuel" – allein der Spitzname lässt es erkennen. Ihr erster Pfarrer, Morris Brown, war so frustriert angesichts der Rassendiskriminierung in den Kirchen der stolzen Hafenstadt Charleston, dass er beschloss, seine eigene zu gründen. 1816 war das. Kurz darauf plante Denmark Vesey, ein freigelassener Sklave, in geheimen Absprachen mit anderen Gemeindemitgliedern eine Rebellion gegen weiße Plantagenbesitzer. Die Revolte sollte am 16. Juni 1822 beginnen, allerdings wurden die Verschwörer verraten und hingerichtet. 1962 sprach der legendäre Martin Luther King in der Emanuel Church.

Freiheit, das sei alles, worum es in diesem Haus gehe, skizzierte Pinckney einmal in einer Predigt, worin er seine Aufgabe als Pastor verstehe. "Manchmal muss man ein wenig Lärm machen, um dies zu erreichen. Manchmal muss man marschieren und kämpfen und in Kauf nehmen, dass man sich nicht nur Freunde macht, wenn man es tut." (Frank Herrmann aus Washington, 18.6.2015)