Ganz neu ist das Thema Sozialmissbrauch ja nicht – als Verdächtigung, als Pauschalvorwurf ist es schon in den 1970er-Jahren immer wieder von Unternehmern und von deren politischen Vertretern in der ÖVP aufgebracht worden. Aber seit sich vor bald 30 Jahren Jörg Haider der Sache angenommen hat und den unschönen Begriff "Sozialschmarotzer" in die politische Debatte eingebracht hat, haben sich alle anderen Parteien gehütet, an dieser Materie anzustreifen – in dem Wissen, dass das ohnehin nur den Populisten nützen würde. Allenfalls hat man (gerade zur Zeit der schwarz-blauen Koalition, als die FPÖ mehr oder weniger gut unter Kontrolle war) versucht, die Treffsicherheit der Sozialleistungen nachzuschärfen.

Aber am Prinzip, dass soziale Risiken versichert, persönliche Notlagen abgefedert werden müssen, hat keine Regierungspartei zu rütteln gewagt. Und schon gar nicht daran, dass die Anspruchsvoraussetzungen für alle in Österreich gleich sein müssen, egal wo sie herkommen.

Einige gingen noch weiter: Blauäugige Sozialdemokraten und verträumte Grüne haben – jeweils rund um EU-Wahlkämpfe – sogar davon geschwärmt, dass die EU nicht eine Wirtschafts-, sondern besser eine Sozialunion sein sollte. Erst als diese Träumer darauf hingewiesen worden sind, welche Konsequenzen eine Sozialunion hätte, hat sich die internationale Solidarität verflüchtigt. Eine Sozialunion hieße letztlich, dass die Sozialversicherung europaweit vereinheitlicht würde – mit einem gigantischen Umverteilungseffekt von Beitragszahlern und Pensionisten in wirtschaftlich starken Staaten zu Empfängern in Ländern, die es ökonomisch nicht so glücklich getroffen haben.

So weit will ja doch kaum einer gehen – weil da die österreichischen Wähler nicht mitgehen würden.

Die regen sich ja schon darüber auf, wenn Fälle von offensichtlich missbräuchlich in Anspruch genommenen Sozialleistungen aufgezeigt werden. Das ist, wie gesagt, seit Haiders Zeiten eine Spezialität der FPÖ – gerne aufgegriffen auch von Boulevardmedien.

Wobei ein Blick in die Statistiken zeigt, dass sich der Missbrauch auf Einzelfälle beschränkt. Zumindest bisher, zumindest in bundesweiter Betrachtung. In den vergangenen Wochen hat aber die ÖVP den Blick genauer auf jene Fälle gelenkt, in denen sie eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme von sozialen Wohltaten vermutet.

Es ist kein Zufall, dass ihr dabei vor allem Häufungen des Bezugs von Mindestsicherung in Wien auffallen – hier geht schließlich der nächste Wahlkampf los. Es ist auch kein Zufall, dass der ÖVP jene Ausländer auffallen, die aus den Sozialleistungen eine beachtliche Auffettung ihres (notabene: oft sehr bescheidenen) Arbeitseinkommens lukrieren.

Das sind nämlich genau jene Konstellationen, aus denen der Mitbewerber rechts der Mitte ebenfalls gut politisches Kapital zu schlagen versteht. Natürlich ist es richtig, Missbrauch abzustellen – soweit es sich um wirklichen Missbrauch handelt und nicht um die bloße Inanspruchnahme von sozialen Rechten, wie sie allen Einwohnern Österreichs zustehen. Und wie sie nach EU-Recht eben auch Bürgern anderer EU-Staaten zustehen.

Darüber hinaus politisches Kapital aus (behauptetem) Sozialmissbrauch schlagen zu wollen dürfte auch weiterhin nur der FPÖ nutzen. (Conrad Seidl, 15.6.2015)