Noch ist Brian Wilson (Paul Dano) von den Beach Boys das unangefochtene Wunderkind des Sixties-Pop. Bald werden ihn Dämonen heimsuchen.

Foto: Studiocanal/Duhamel

Wien - Wer vor zwanzig Jahren berühmt war, darf nicht damit rechnen, dass er beim Autokauf erkannt wird. "Wissen Sie, wer das ist?", fragt einer der Begleiter des unscheinbaren Käufers die Angestellte. "Das ist Brian Wilson." Der verlegen lächelnden Verkäuferin sagt dieser Name nichts. Doch zum Glück hat der Wortführer der Entourage noch ein Ass im Ärmel: "Brian Wilson von den Beach Boys."

Der Cadillac, in dem das nun erkannte und bekannteste Bandmitglied Platz genommen hat, dient als Ort des Rückzugs und der Flucht. Nur drei Wörter kritzelt Brian Wilson (John Cusack), von seinem Gefolge für einen Augenblick unbeobachtet, der neben ihm sitzenden Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks) auf ihre Visitenkarte: "Lonely. Scared. Frightened." Der Mann, der in den frühen Sechzigern mit Hits wie I Get Around und Surfin U.S.A. den Mythos vom kalifornischen Traum musikalisch untermauerte, ist heute offensichtlich ein Wrack. Die Falsettstimme von damals ist zu einem stummen Hilfeschrei erstickt.

Die frühen Songs der Beach Boys über Sonne, Meer und Surferglück hat man bereits zu Beginn des Films zu hören bekommen - und zwar zum Glück im Schnelldurchlauf, denn Love & Mercy interessiert sich nicht für Durchbruch und Höhenflug der Gruppe, sondern als Biopic über Brian Wilson für dessen Kampf gegen Kommerz und Langeweile. Also für jenen Konflikt mit sich selbst, der ihn zu einem ernsthaften Produzenten und Musiker werden ließ.

Traumatisches Erlebnis: erster Anfall

Diesen Umbruch beschreiben Regisseur Bill Pohlad und der bereits an Todd Haynes' kunstvoll verschachteltem Bob-Dylan-Film I'm Not There beteiligte Autor Oren Moverman, indem sie zwei Zeitebenen und Lebensphasen Wilsons miteinander kollidieren lassen: Mitte der 60er-Jahre ist die Welt für den jungen Brian (Paul Dano) zwar noch einigermaßen in Ordnung, doch die Zeichen der Krise sind nicht mehr zu übersehen. Den ersten Anfall, der den kreativen Kopf der Beach Boys dazu veranlasst, bei der nächsten Tournee zu Hause zu bleiben und stattdessen eine neue Platte namens Pet Sounds vorzubereiten, inszeniert Pohlad als traumatisches Erlebnis. Die künstlerische Abhängigkeit der Brüder, der restlichen Band sowie des noch als Produzent tätigen Vaters von Wilson tritt immer deutlicher zutage, während sich in seinem Kopf die Stimmen und Töne immer häufiger und lauter melden.

Die Beschreibung von Wilsons totalem Kontrollverlust über sein Leben spart Love & Mercy aus. Der Psychiater Eugene Landy (Paul Giamatti) hat ihn als strenger Arzt und durchtriebener Manager in den Achtzigern bereits fest unter Kontrolle und versucht nun mit aller Macht zu verhindern, dass sein ihm höriger Patient mithilfe einer Autoverkäuferin wieder zu einem selbstständig handelnden Menschen wird. Ein rechtlicher, aber auch moralischer Kampf, der mit jenem um die künstlerische Befreiung zwanzig Jahre davor begonnen hat.

Kluges Psychodrama

Deshalb ist Love & Mercy trotz der Songs und Sessions - bei denen ein großartiger Paul Dano auch noch als Sänger brilliert - im Grunde weniger Musikfilm als klug konzipiertes Psychodrama, und man spürt, was Bill Pohlad als Produzent von Filmen wie Sean Penns Into the Wild und Terrence Malicks The Tree of Life an diesem Stoff interessiert haben dürfte: die Beschreibung eines Lebensweges aus der Krise hinein in eine neue Identität.

In einer grandiosen Szene spielt Wilson seinem autoritären Vater seine neue Komposition vor. Ein Lied von zärtlicher Schwere, die auch Love & Mercy bestimmt und auszeichnet. Das klinge wie der Abschiedsbrief eines Selbstmörders, meint dieser, während der um Anerkennung bettelnde Sohn gerade mit God Only Knows einen der schönsten Popsongs der Geschichte vorträgt. (Michael Pekler, 15.6.2015)