Dem Jubilar Wolfgang Schüssel geht das Zeichnen und Musizieren viel leichter von der Hand als das Schreiben. Das kann er am wenigsten. Sieht man ab von der Politik. Was er in diesem Metier am besten konnte, war schweigen und reden.
Von der politischen Rede geprägt sind daher auch jene Texte, die er rund um seinen 70. Geburtstag an Printmedien verteilt hat. Ach ja, ein Buch hat er auch wieder geschrieben bzw. komponiert. Das Jahrhundert wird heller (bei Amalthea).
Ein Sch(l)üsseltext findet sich im bald nicht mehr eigenständig erscheinenden Format. Der originellerweise mit dem Buchtitel überschriebene "Essay" handelt von Österreich, das sich der "Selbstverzwergung" verweigern müsse, und Europa, das sich den Forderungen der Briten nicht verschließen solle.
Bedrohung der politischen Mitte Europas
In diesem von Schlagwörtern überfüllten Aufsatz versteckt sich - vielleicht ungewollt - sogar eine politische Philosophie. Ich nenne sie die "Machtkonstruktion der Mitte".
Schüssels geschichtsträchtige These: Die politische Mitte Europas wird bedroht von Links- und Rechtspopulisten (mit denen er allerdings schon einmal gemeinsame Sache machte), aber auch von "Sezessionisten" wie den Schotten oder den Katalanen. Ihre Protagonisten seien "schreckliche Vereinfacher und Angstmacher". Allesamt seien das Flachbrettbohrer, die nur eines im Sinne hätten - endlich an die Fördertöpfe der EU zu kommen.
Auf die Idee, dass diese Abweichler und Extremisten auch den einen oder anderen Denker in ihren Reihen haben, aber vor allem vom Kraftverfall der Mitte profitieren, kommt Schüssel nicht. Und indem er ihnen einen Kampf gegen die "angeblich Reichen" vorwirft (so als gäbe es die gar nicht), entfaltet sich in Schüssels politischer Bibel das Mantra des Neoliberalismus. Den es in Österreich nach Meinung seiner Anhänger gar nicht gibt.
Unterstützung für Europaarmee
Wie zur Kräftigung seines Machtparallelogramms propagiert er auch noch den TTIP-Vertrag, ohne zu erwähnen, welche Bedenken sogar Vertreter der christlichen Mitte gegen die geplanten privaten Schiedsgerichte und die damit verbundene Aushebelung der Gewaltenteilung haben.
Schüssel setzt noch eins drauf. Er unterstützt Jean-Claude Junckers Planungen für eine Europaarmee. Damit sich die "Mitte" gegen Ränder verteidigen kann?
Der ehemalige österreichische Bundeskanzler hat einige Reformen durchgesetzt (Verstaatlichte, Pensionen) und schwere Sünden der Vergangenheit gut gemacht (Zwangsarbeiter). Aber Österreich reformiert hat er nicht. Die teuren Verwaltungsstrukturen sind geblieben.
Nicht Geist, sondern Macht
Das betrifft auch sein Konzept der "Verteidigung". Dass die EU ein Friedensprojekt ist, hat er genauso wie Juncker in seinen tieferen Dimensionen offenbar nicht begriffen.
Schüssel fördert mit seinen Plädoyers nicht die Wissenschaften und die Kultur, sondern die Rüstungsindustrie. Nicht den Geist, sondern die Macht. Es ist ein Konzept, das aus dem 20. Jahrhundert stammt. Der Überwachungsstaat, die Cyberangriffe, die Drogenkriege verlangen aber andere als konventionelle Antworten. (Gerfried Sperl, 15.6.2015)