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Als finnischer Ministerpräsident hat Jyrki Katainen erlebt, wie rasch ein kleines reiches Land abstürzen kann. Als EU-Kommissar für Wachstum und Beschäftigung wirbt er für rasche Reformen und Innovation.

Foto: AP/Yves Logghe

STANDARD: Sie waren zuletzt als finnischer Premier in Österreich, jetzt kommen Sie als Vizepräsident der EU-Kommission, zuständig für Wachstum und Beschäftigung. Was ist Ihr Hauptanliegen?

Jyrki Katainen: Mein Hauptanliegen ist es, die Aufmerksamkeit auf Instrumente für Investitionen zu lenken, die wir für private Investoren geschaffen haben. Die Pläne haben drei Elemente. Das erste ist der EFSI, der Fonds für strategische Investitionen, der ganz neu ist. Er bietet Risikokapital für private Investoren im Rahmen von Public-Private-Partnerschaftsprogrammen, den PPP, bei denen Staat und Private beteiligt sind. Es gibt dabei zwei wesentliche Stränge. Das eine sind die Klein- und Mittelbetriebe. Wir verdoppeln die Mittel für den Investitionsfonds EIF, der das unterstützt. Hier gibt es Risikokapital, auch Kredite. Ich versuche die lokalen Regierungen zu ermutigen, eine Abwicklungsstelle zu schaffen, über die solche Kooperationen ablaufen können.

STANDARD: Sie fahren in ein EU-Land, auf das zunehmend wirtschaftliche und strukturelle Probleme zukommen. Die Arbeitslosigkeit steigt stark, wie in Finnland, das schwer in der Krise ist, das in Österreich neben Schweden lange Zeit ein Vorbild war. Worauf muss ein kleines hochindustrialisiertes Land aufpassen?

Katainen: Beide Länder, Österreich und Finnland, sind Musterbeispiele dafür, welchen Herausforderungen ein kleines Land ausgesetzt ist, das einem tiefen strukturellen Wandel unterworfen wird. Der Weltmarkt hat sich stark gewandelt, und das hat Auswirkungen auf die Industrie. Sie war nicht früh genug darauf vorbereitet. Nehmen Sie die Firmen im finnischen Papiersektor. Sie produzieren noch immer Papier und Pappe, aber sie werden nun mehr und mehr Firmen, die erneuerbare Energie erzeugen. Den größten Profit machen sie inzwischen mit Energie, nicht mit Papier. Der ICT-Sektor, der Informations- und Kommunikationsbereich, ist ein anderes Beispiel für diesen scharfen Wandel.

STANDARD: Stichwort Nokia-Krise. Was heißt das für die Arbeitswelt?

Katainen: Ein anderes großes Problem ist das der Überalterung. 2010 gingen in Finnland erstmals mehr Leute in Pension, als auf den Arbeitsmarkt kamen. Wir sind damit konfrontiert, dass immer weniger Leute im Arbeitsprozess stehen und dann auch weniger Steuern zahlen werden über ihre Löhne. Der Anteil der Steuern, die von Pensionisten kommen, wird größer. Das hat große Auswirkungen. Als Erstes hat es eine negative Wirkung auf die Geburtenrate. Das bedeutet, dass ein solches Land tiefgreifende Änderungen im Pensionssektor durchführen muss. Das Pensionsalter muss angehoben, an die Lebenserwartung angepasst werden.

STANDARD: Klingt nach Österreich – was, schlagen Sie vor, sollte die Regierung in Wien tun?

Katainen: Beide Länder, Österreich wie Finnland, haben ein exzellentes Ausbildungsniveau, die soziale Sicherheit ist sehr stark. Aber beide sind wir stark abhängig von der Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf die Außenwelt. Daher müssen wir in diese Richtung reformieren, um die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Es ist nicht gesagt, dass der Wohlfahrtsstaat in Gefahr ist, aber er wird sich von dem unterscheiden, was wir kennen.

STANDARD: Muss der Wandel schneller gehen, ist das das Problem bzw. die Chance kleinerer Länder?

Katainen: Genau das meine ich. Ob’s uns passt oder nicht, der Wandel ist eine Realität. Die Überalterung der Gesellschaft können wir nicht ändern, das dauert zwanzig Jahre, bis sich Demografie ändert. So muss man akzeptieren, dass wir länger arbeiten müssen, sonst ist das Niveau der Pensionen nicht aufrechtzuerhalten. Das gilt aber auch für alle Bereiche der Gesellschaft oder des Staates. In Finnland zum Beispiel muss auf Gemeindeebene viel geändert werden, wir müssen die Zahl der Gemeinden reduzieren, um die Effizienz zu erhöhen. Vor allem geht es darum, die Mittel in Forschung und Entwicklung zu stecken, um Unternehmen zu stärken, sie wettbewerbsfähiger zu machen.

STANDARD: Wie sieht es in Europa aus? Hier scheint die Kluft zwischen Nord und Süd das Problem zu sein.

Katainen: Das muss man differenziert sehen. In diesem Jahr verzeichnen alle EU-Staaten erstmals wieder ein Wachstum, mit Ausnahme von Griechenland, das der große Ausnahmefall ist, leider.

STANDARD: Was bedeutet das?

Katainen: Wenn Sie nach Portugal oder Zypern schauen, sehen Sie eine deutliche Erholung. Oder Spanien: Das Land hat im vergangenen Jahr 700.000 neue Jobs geschaffen, in diesem Jahr werden es mehr als eine Million sein. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Portugal oder Zypern. Der Abstand bei der Beschäftigung wird zum Norden hin wieder kleiner. Umgekehrt gibt es in Nordeuropa viele Reformen, die zu leisten sind, Finnland und Österreich sind dafür gute Beispiele.

STANDARD: Die Arbeitslosigkeit ist in beiden Staaten stark gestiegen.

Katainen: Wir haben jetzt den Stabilitätspakt, der Haushaltsdisziplin schafft, sehr niedrige Zinsen, die Exporte begünstigen, und einen niedrigen Ölpreis. So muss man sagen: Alle externen Faktoren sprechen für Wachstum. Es liegt nun an den Regierungen, dafür zu sorgen, dass die Strukturreformen stattfinden.

STANDARD: Zu Griechenland: Sie sagen, es ist ein Spezialfall. Ist eine Lösung noch möglich, oder droht der Grexit?

Katainen: Eine Lösung ist möglich, aber sie hängt von der griechischen Regierung ab. Der Ball liegt nun bei Athen. Kommissionspräsident Juncker hat alles unternommen und war sehr hilfreich, um eine Lösung zu ermöglichen, leider war die griechische Regierung nicht kooperativ. Die EU-Staaten signalisieren, dass sie helfen wollen. Aber mehr Geld ist nicht die Lösung, das löst nur oberflächlich das Finanzierungsproblem. Aber darunter liegt das eigentliche Problem, die Wirtschaft muss von der Regierung in einen gesunden Zustand gebracht werden, und dabei haben wir bisher nicht genügend Fortschritt gesehen. Aber wir hoffen weiter.

STANDARD: Merkel und Hollande haben doch zuletzt deutlich gemacht, dass sie zum Nachgeben bereit sind und man nicht ein großes sicherheitspolitisches Risiko eingehen will nur wegen ein paar Milliarden Euro. Stimmt das?

Katainen: Es gibt eine Menge Goodwill in der Union, sowohl bei den Mitgliedstaaten als auch bei der Kommission. Juncker sagte vor ein paar Tagen, er könne nicht einen Hasen aus dem Hut zaubern, wenn die Regierung in Athen nicht bereit ist, Dinge zu korrigieren, die in Griechenland auf dem Prüfstand stehen. Geld allein hilft nicht. Man könnte immer mehr Liquidität zur Verfügung stellen, aber ohne Strukturreform bringt das gar nichts. Die Kommission will eine nachhaltige, gute Lösung – hoffen wir, dass die Regierung in Athen diese Sicht teilt. Dies ist auch eine Frage der Fairness.

STANDARD: Wird es eine neue Übergangslösung geben für die nächsten ein, zwei Jahre? Ist Vertrauen wichtiger als Geld?

Katainen: Schwer zu sagen im Moment. Ich bin aber sicher, dass die Kommission und die Staaten eine nachhaltige Lösung wollen. Es ist aber richtig: Ein Schmerzmittel allein hilft nicht, wenn man nicht versucht, die Krankheit zu bekämpfen.

STANDARD: Zu Ihrem aktuellen Anliegen, dem EFSI. Haben Sie den Eindruck, dass in Österreich die Bereitschaft, in strategische Investitionen zu gehen, etwas unterentwickelt ist?

Katainen: Strategische Investitionen zielen nach meiner Auffassung in erster Linie auf große Infrastrukturprojekte ab, zum Beispiel Energieinfrastrukturen. Es kann sich aber auch auf Innovationen und deren Finanzierung beziehen. Die wichtigste Infrastruktur, die wir haben, sind die Klein- und Mittelbetriebe, die stark wachsen. In vielen Ländern haben diese ein Problem mit Risikokapital, da gibt es eine große Lücke. Europa muss dringend neue Unternehmen schaffen, die neue Technologien hervorbringen. Aus vielen Ländern hören wir, dass die Banken zwar Kredite vergeben, aber es sehr schwer sei, daranzukommen. Das ist einer der Gründe, warum wir uns auf die Eigenkapitalfinanzierung konzentrieren.

STANDARD: Sie wollen es leichter machen, an Kredite zu kommen – aber wie?

Katainen: Der EFSI-Fonds kann die Startfinanzierung ermöglichen. Wenn es zu Beginn einer Unternehmung Verluste gibt, so kann das der Fonds zur Hälfte mit den privaten Investoren tragen. Es gibt eine Menge Liquidität auf den Märkten. Unsere Idee war, dass wir nicht noch mehr Kapital von Staatsseite aus hineinpumpen, sondern Investitionen fördern. Der entscheidende Punkt im Moment ist, wie wir das Risiko teilen, um Investoren zu ermuntern.

STANDARD: Das Problem ist also nicht das Geld, sondern gute Projekte zu finden?

Katainen: Im letzten Herbst haben wir die Regierungen gebeten, uns ihre Projekte vorzulegen. Die Liste beinhaltet in der Regel Infrastrukturprojekte, die nur zu einem geringen Teil private Projekte sind. Die meisten sind PPP. Es ist aber nicht wahr, dass es einen Mangel an guten Projekten gibt. Das zweite Element im Plan ist die Projektträgerschaft. Da muss mit vielen Illusionen aufgeräumt werden. Ich war zum Beispiel in der City of London. Die Investoren sagen uns, sie können Infrastrukturprojekte finanzieren, auch große, aber es sei schwierig, gute Projekte zu finden. Wir werden im Juli damit beginnen können, so soll der Sichtbarmachung von Projekten Rechnung getragen werden.

STANDARD: Warum ist die Projektentwicklung und -umsetzung so schwierig?

Katainen: Die Sichtbarkeit ist eines der Probleme dabei. Bei Infrastrukturprojekten ist die Abwicklung oft schwierig. Und das ist natürlich Teil eines Investitionsplans. Wir werden eine Ratgeberplattform schaffen. Dort werden Leute mit entsprechendem Know-how versammelt. Experten der Europäischen Investitionsbank und der Kommission, die werden eine eigene Website anbieten, von wo aus man technische Hilfe abrufen kann für staatlich-private Finanzierungen. Wir wollen den regionalen Ebenen helfen bei der Konstruktion solcher Projekte.

STANDARD: Es gab viel Kritik an der Liste der Projekte, die die Regierungen vorgelegt haben, weil sich darauf vor allem Projekte finden, die es auf nationaler Ebene lange gab, die aber nie realisiert wurden. Teilen Sie diese Kritik?

Katainen: Ein großer Teil waren schlicht und einfach staatliche Projekte, und die können nicht qualifiziert sein für strategische Risikoinvestitionen. Viele wären aber wirtschaftlich und entwicklungsfähig, auch in PPPs. Und es gibt Projekte, die nie und nimmer abheben werden. Was immer die Regierungen nun tun, der EFSI wird sich darauf konzentrieren, öffentlich-private Projekte zu fördern und zu finanzieren.

STANDARD: Kommen wir zu Österreich, ganz konkret: Gibt es spezielle Projekte, die Sie in Österreich als realistisch ansehen?

Katainen: Das kann ich nicht sagen, das steht mir auch nicht zu. Es liegt an den Unternehmen selber, sich an die EIB zu wenden – die entscheidet auch über die Projekte. Die Kommission oder die Regierungen sind hier nicht die Türsteher. Die einzige Rolle, die der Staat direkt spielen kann, ist, wenn es bei den Klein- und Mittelbetrieben um die Zwischenfinanzierung geht.

STANDARD: Sie haben eine Roadshow durch Europa laufen. Wie viele Länder haben Sie schon besucht, gibt es noch immer viel Ablehnung bei den nationalen Regierungen?

Katainen: Ich habe jetzt 22 Länder besucht, sechs davon werden sich am EFSI direkt beteiligen. Sie werden auf nationaler Ebene eine Plattform schaffen, um dieses Vorhaben zu stützen. Ein gutes Beispiel, wie das gehen kann, sind die Niederlande. Da werden regionale Körperschaften eine Zweckgesellschaft gründen, bei der die zentrale Regierung keine Rolle spielt. Sie werden sich auf Forschung und Entwicklung und auf KMUs konzentrieren.

STANDARD: Sechs von 22 klingt nicht nach viel. Sind Sie enttäuscht?

Katainen: Nein, der EFSI wurde so konstruiert, dass er auf eigenen Füßen stehen kann, auch wenn die Regierungen sich nicht beteiligen. Wir haben ein Grundkapital von 21 Milliarden zur Verfügung und Garantien, die insgesamt eine Investitionssumme von 315 Milliarden Euro ermöglichen. 240 Milliarden gehen in Investitionen im privaten Sektor. Das ist unser erstes Ziel. Die Staaten haben wir gebeten, Plattformen zu schaffen, um die Debatte darüber zu stärken.

STANDARD: Im Moment liegen die Investitionen in der Union noch immer um 15 Prozent unter dem Niveau von 2008, vor dem Ausbruch der Krise. Wie hoch ist der Beitrag des EFSI, um diese Lücke zu schließen?

Katainen: In Geld ausgedrückt reden wir von 300 Milliarden Euro, die bei Investitionen fehlen. Der EFSI zielt auf die Mobilisierung von 315 Milliarden ab. Wir werden nicht die ganze Lücke schließen können, aber ein Drittel des Nötigen sollte doch gelingen. Es ist immer schwer, so was konkret vorauszusagen. Es wird einige Zeit dauern, bis der Binnenmarkt im Energiesektor umgesetzt ist. Aber es ist doch klar, dass die Wirkung groß sein wird auf mittlere Sicht.

STANDARD: Wenn Sie das sektoriell sehen: Was ist speziell für Österreich interessant?

Katainen: Ich könnte mir vorstellen, dass das Land speziell im Energiebereich interessiert ist. Österreich möchte von fossilen Energieträgern unabhängig werden. Es gibt eine große Nachfrage, mehr in Energieeffizienz, energiesparende Technologie und nachhaltige Energie zu investieren. Gerade Klein- und Mittelbetriebe könnten besonders dazu beitragen.

STANDARD: In Österreich ist die Ablehnung von Nuklearenergie sehr groß. Können Sie ausschließen, dass mit EFSI-Mitteln Atomkraftwerke finanziert werden?

Katainen: Ich wäre erstaunt, wenn der EFSI Atomkraftwerke finanziert, denn das gehört nicht zu unseren prioritären Projekten. Unsere Prioritäten im Energiesektor liegen im Ausbau der Leitungsnetze zwischen den EU-Staaten, in der Energieeffizienz und im Bestreben, den Anteil erneuerbarer Energie zu erhöhen. Darauf wird sich auch der EFSI konzentrieren. Auch im digitalen Sektor geht es stark um die Infrastruktur, ebenso im Verkehrsbereich, wo intelligente Verkehrslösungen gefragt sind.

STANDARD: Sie sprechen an der Wirtschaftsuniversität Wien zum Thema "Die Zukunft Europas". Was sind Ihre Kernthemen?

Katainen: Es gibt drei Dimensionen: Wir müssen Europa weiter reformieren, den Binnenmarkt vertiefen und ihn ausweiten auf Gebiete, zu denen wir im Moment keinen so guten Zugang haben. Die Welt rund um uns hat sich verändert, aber wir haben zum Beispiel keinen digitalen Binnenmarkt. Es ist allerhöchste Zeit, das zu harmonisieren. Wir müssen die Barrieren, die zwischen den Bürgern und den Unternehmen bestehen, beseitigen. Zweitens: Integration gibt den jungen Leuten neue Möglichkeiten, in der Ausbildung wie auch bei der Jobsuche, sie gibt aber auch den Unternehmen mehr Möglichkeiten. Dies ist unsere Chance, uns nach außen zu schützen beziehungsweise die Probleme, die von außerhalb Europas auf uns zukommen, anzusprechen. Die Herausforderungen sind groß – Migrantenströme, die Bedrohung der Sicherheit, Cyberkriminalität zum Beispiel. Da ist es klar, dass ein geeintes Europa stärker ist als ein vereinzeltes.

STANDARD: Was ist der dritte Punkt?

Katainen: Es stellt sich die Frage, inwieweit alle Europäer sich als berechenbar darstellen für die anderen Europäer. Das wirft Fragen nach Fairness auf. Mitglied der Union oder in der Eurozone zu sein, das eröffnet jedem von uns viele Möglichkeiten, aber es ist auch mit Pflichten verbunden. Niemand kann seine Probleme zu den anderen outsourcen. Wir müssen bereit sein, uns gegenseitig zu helfen, jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen. Wir sind alle Mitglieder einer Familie. Letzter Punkt: Ich kann Europa nicht nur als Freihandelszone sehen, wir haben eine Union der gemeinsamen Werte. Daher sollten wir uns mehr auf die Verbesserung der Bildung und Ausbildung konzentrieren. Das ist eine Medizin, die soziale Gerechtigkeit steigert und die Kluft zwischen den Staaten verkleinert. (Thomas Mayer, 15.6.2015)