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Er eröffnet dem Erzählen immer reizvolle Möglichkeiten: C. J. Setz.

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In seinem Erzählband Die Geschichte des Mahlstädter Kindes zitiert Clemens J. Setz den großen portugiesischen Poeten Fernando Pessoa. Der Dichter sei ein Schwindler, der selbst dann noch Schmerzen vortäusche, wenn er wirklich welche fühle. Damit ist eine Grauzone zwischen realitätsträchtiger Fiktion und fiktional zugerüsteter Realität angesprochen, in der sich auch Setz gerne bewegt.

Das zeigt sich dort, wo Setz Setz vortäuscht, ohne dass zweifelsfrei geklärt wäre, ob in der Täuschung nicht doch ein Stück echter Setz steckt. Gerne platziert der Autor fiktive Stellvertreter in seinen Texten. Im Roman Indigo etwa einen Mathematiklehrer namens Setz. Oder in der Erzählung Das Herzstück der Sammlung einen alt gewordenen Autor dieses Namens, der im Gitterbett vegetiert und nur noch "Maah" sagen kann.

Ein Dichter sollte nicht rechnen können

Der Erzählung ist ein Motto vorangestellt, das die Verwirbelung der Kategorien lustvoll weitertreibt. Es stammt von einem Verfasser, dessen Existenz sich nirgendwo nachweisen lässt, dem die existenzielle Einfärbung der Erfindung aber sehr wohl eingeschrieben ist: "Ein Dichter kann sich seinen eigenen Tod leicht vorstellen. Er braucht nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Allerdings - falls das Ergebnis am Ende tatsächlich VIER sein sollte, hat er irgendwas falsch gemacht."

Zwei und zwei ergibt bei Clemens J. Setz natürlich niemals vier. Das erweist sich einmal mehr in seinem jüngsten Buch Glücklich wie Blei im Getreide. Auch hier taucht wieder ein Professor Setz auf, der es mit einem stilistisch unbeholfenen und inhaltlich höchst problematischen Erlebnisaufsatz zu tun bekommt. Und in einer anderen der 45 Kurzgeschichten erinnert sich die Enkelin Anna-Livia Setz an ihren Großvater, den Schriftsteller C. J. Setz, der - wie es heißt - von einem Balkon erschlagen wurde. In ihrer Erinnerung freilich lebt er weiter. Einmal sieht sie ihn durch die Luft fliegen und ruft ihrer Mutter zu: "Da oben ist Opa! Da oben!"

Dieser phantasmagorische Blick in die eigene Zukunft wird im Buch überformt von einem anderen Spiel, bei dem zwei und zwei locker sieben oder neun ergibt. Es erscheint angelehnt an ein Spiel, das Stille Post heißt. Einer flüstert seinem Nachbarn einen Satz ins Ohr. Der gibt ihn seinerseits an den Nächsten weiter, und so fort. Der Letzte tut laut kund, was er vernommen hat. Mit dem ersten Satz hat das meist nichts zu tun, und so mündet das Spiel in gemeinschaftliches Gelächter.

Abgründige Schwindelei der Dichtung

Der jüngst verstorbene Schweizer Autor Urs Widmer wagte sich seinerzeit an eine literarische Umsetzung dieses Spiels. Er schrieb einen Text, der in nahezu alle Amtssprachen der Vereinten Nationen übersetzt wurde. Wobei die Übersetzer jeweils nur die letzte Fassung kannten. Das Ergebnis waren höchst wundersame Transformationen von Widmers Geschichte. In Glücklich wie Blei im Getreide spielt Setz dieses Spiel mit sich selbst und gewinnt damit der abgründigen Schwindelei der Dichtung neue Facetten ab. Er erzählt Geschichten nach (die kongenialen Zeichnungen dazu stammen von Kai Pfeiffer), die er im Alter von achtzehn, neunzehn Jahren geschrieben haben will. Ganz zu trauen ist dieser Angabe nicht, denn zum größeren Spiel, das Setz mit seiner Leserschaft spielt, gehört von jeher das Legen von falschen Fährten.

Es ist aber letztlich egal, ob die Ausgangsgeschichten der Nacherzählungen wirklich existieren: Entscheidend ist, dass diese Idee dem Erzählen reizvolle Möglichkeiten eröffnet. Es entfaltet sich in einem Raum, in den die Bruchstücke der alten Geschichten ragen, ohne dass sie durch die Nacherzählung zu einem neuen Ganzen gefügt würden. Setz spricht in diesem Zusammenhang auch von Zusammenfassungen, denen freilich eigen ist, dass sie lückenhaft bleiben, offen, rätselhaft. Die Zusammenfassung stiftet alles, nur keinen Zusammenhang.

Wo Setz Setz vortäuscht

Das Erzählen schafft in einem fort Ungewissheiten, kündigt den Pakt mit der "Wirklichkeit", um seine eigenen Bezüge zu etablieren. Verstrickt in solche Bezüge, kann Setz schon zu einem "als Heuschreckenschwarm verkleideten Autor" mutieren. Nicht zufällig zitiert er in der abschließenden Nacherzählung Suchbild mit Jeff die Nonsense-Maschine des Cartoonisten Rube Goldberg. Sie steht sprichwörtlich für unnötig komplizierte Apparaturen, die keinerlei praktischen Nutzen haben, aber Vergnügen bereiten, wenn man sich auf ihren selbstreferenziellen Sinn einlässt. Diese Art Vergnügen mag ein Schlüssel sein zu den Nacherzählungen von Setz. Wer sich in sie vertieft, stößt auch auf den ausweglosen Ernst, der sich hinter den verspielten, raffinierten Auswegen der Form verbirgt. Um die Bildlichkeit des Titels weiterzuspinnen: Das Getreide wächst, doch das Glück kommt nicht vom Fleck. (Gerhard Melzer, 13.6.2015)