Ikone für Generationen: "Regarding Susan Sontag".

Foto: Identities

Wien – Bei der Fernsehdebatte über die Terroranschläge von 9/11 fordert sie die globale Verantwortung der Vereinigten Staaten ein. Sie ist die Einzige in der Runde, die an ein historisches Gewissen und an eine demokratische Zukunft im eigenen Land appelliert.

Nicht nur bei ihren öffentlichen Auftritten war Susan Sontag eine Einzelkämpferin, auch privat setzte sich die Philosophin und Essayistin gegen gesellschaftliche Konventionen zur Wehr. Als sie Ende der 1940er-Jahre als junge Frau nach San Francisco kam, empfand sie das neue Lebensgefühl als Befreiungsschlag, weil sie erstmals ihre scheinbar festgeschriebene Identität in Frage stellen und Beziehungen zu Frauen leben konnte. "Ich bin neugeboren", schrieb sie. Obwohl sie wenig später dem traditionellen Lebensplan entsprechend heiraten und Mutter werden sollte, wurde Sontag zu einer Galionsfigur der queeren Bewegung.

In ihrem Porträtfilm Regarding Susan Sontag wirft Nancy Kates ihren Blick in erster Linie auf ebendiese Rollen- und Geschlechterzuschreibungen, mit denen Sontag im Laufe ihrer Karriere konfrontiert wurde, und verknüpft diese laufschrittartig mit Sontags Schriften über Politik, Kunst, Camp und Populärkultur. Eine eingehende Auseinandersetzung gestattet dieser Zugang allerdings ebenso wenig wie die eingestreuten Interviews mit Lebensgefährtinnen wie Annie Leibovitz, Kollegen und Familienangehörigen. Dem Stellenwert, den Sontag als politische Querdenkerin noch heute, zehn Jahre nach ihrem Tod, einnimmt, wird Kates’ Zugang nicht gerecht.

Dass Regarding Susan Sontag im Rahmen von Identities zu sehen ist, überrascht dennoch nicht. Denn gerade bei einer solchen Veranstaltung, die einen Überblick über ein Filmschaffen aus queerer Perspektive präsentiert, gilt es Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Wenn im Programmheft des Festivals also einleitend zu lesen ist, dass das österreichische "temporäre Frühlingslüfterl" im Zuge des Eurovision Song Contests in Hinsicht auf die Akzeptanz "moderner, pluralistischer Lebensweisen" wenig verändert habe – was die die aktuelle Volksinitiative zur Homo-Ehe in Österreich belegt –, muss die Programmauswahl auch an der Notwendigkeit einer Bewusstseinsbildung gemessen werden.

In dieser Hinsicht decken die auf den ersten Blick allgemein wirkenden Schienen – Literatur, Musik, Sport oder Coming of Age – im Grunde jenes breite Spektrum an Themen und Schauplätzen ab, in dem sich gehäuft queere Lebensformen und Biografien finden, die zwar selbstverständlich sind, aber nicht als solches wahrgenommen werden.

Das zeigt sich etwa an Appropriate Behavior, mit dem das Festival am Donnerstagabend eröffnete und in dem die iranisch-amerikanische Regisseurin Desiree Akhavan sich als ihre eigene Hauptdarstellerin auf einen Selbstfindungstrip durch New York schickt: Während Shirin ihr Coming-out vor den Eltern hinauszögert, beginnen ihr Zeit und Freundin davonzulaufen. Der selbstironische Ton, den Akhavan in ihrem Debütfilm anschlägt, kündet von einem Selbstbewusstsein, das die vermeintliche Schwäche ihrer Heldin zu deren eigentlicher Stärke werden lässt.

Die Stärke von Identities wiederum ist seit vielen Jahren eben die programmatische Vielfalt, nicht unbedingt die Qualität einzelner Arbeiten. So reicht das Spektrum heuer von Literaturadaptionen wie James Ivorys The Bostonians (1984), der im Rahmen einer Vanessa Redgrave gewidmeten kleinen Auswahl zu sehen ist, bis zu Festivalerfolgen wie Abdellatif Kechiches La vie d’Adèle; von etlichen Österreich-Premieren wie dem gegen den Strich gebürsteten Schweizer Heimatfilm Rosie von Marcel Gisler bis zu heimischen Kurzfilmen wie Der Rücken der Dirigentin. Marion Portens Körperstudie und Beobachtung von Machtverhältnissen bringt die Idee von Identities auch auf den Punkt: Der Dirigentinnenstock ist kein Leitfaden für den eigenen, richtigen Weg. Diesen muss man sich selbst bahnen. (Michael Pekler, 11.6.2015)