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In der Ostukraine gehören die Gefechte zwischen ukrainischen Kämpfern und prorussischen Separatisten zum Alltag. Ängste vor einem neuen Kalten Krieg schüren sie in ganz Europa.

Foto: AP Photo/Evgeniy Maloletka

STANDARD: Sie waren in letzter Zeit häufig in der Ostukraine. Was sind Ihre Eindrücke vom Alltagsleben der Menschen vor Ort?

Kuzio: Der Donbass ist etwa zu einem Drittel von Separatisten und russischen Kräften besetzt, zu zwei Dritteln von ukrainischen Kräften. Auf der ukrainisch kontrollierten Seite gibt es immerhin eine gewisse Normalität, die Menschen bekommen Pensionen und Sozialleistungen. Auf der Seite der Separatisten hingegen finden wir nur ein großes schwarzes Loch. Es gibt dort keine funktionierende Wirtschaft. Die sozialen Sicherungssysteme der Ukraine kommen nicht durch, und Wladimir Putin hat die Region gewissermaßen aufgegeben. Es gibt dort massive Korruption, humanitäre Hilfsgüter werden häufig gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Donezk, wo vor dem Konflikt mehr als eine Million Menschen lebten, ist nachts eine Geisterstadt.

STANDARD: Was lässt sich über die politischen Entwicklungen und die öffentliche Meinung in den betroffenen Regionen sagen?

Kuzio: Es gibt eine Verhärtung der Positionen. Auf der von Kiew kontrollierten Seite entwickelt sich die Situation ähnlich wie im Rest der Ukraine. Es entstehen viele Bürgerinitiativen, zum Beispiel Gruppen von Frauen, die sich um die etwa eine Million Binnenflüchtlinge kümmern. Sie sind übrigens fast alle russischsprachig, die Sprache ist also nicht der Punkt. Auch der Begriff prorussisch ist sehr vage. Es war Putins Fehler anzunehmen, dass prorussisch auch pro Putin heißt. Das ist aber nicht der Fall. Wenn ein Österreicher die deutsche Kultur mag, dann heißt das noch lange nicht, dass er Deutschland beitreten möchte. Es gibt viele Menschen, die russisch sprechen, Verwandte in Russland haben und sich der russischen Kultur nahe fühlen, aber trotzdem ukrainische Patrioten sind. Das ist der Grund, warum Putin von der Schaffung eines "Neurussland" abgerückt ist.

STANDARD: Wie sieht man das in den Gebieten der Separatisten?

Kuzio: Dort ist die wichtigste Informationsquelle das russische Fernsehen, das jede Menge Falschmeldungen bringt. Es gab etwa die berühmte Geschichte über ein Kind, das in der Ukraine gekreuzigt worden sein soll. Sie war komplett an den Haaren herbeigezogen, aber so etwas verleitet die Leute zu glauben, dass die Ukrainer keine menschlichen Wesen sind, und dass man sie töten darf. Außerdem haben wir das Paradox, dass Putin die ukrainischen Behörden als faschistisch bezeichnet. Dabei ist es Putin selbst, der mit den europäischen Faschisten gemeinsame Sache macht.

STANDARD: Welche Motive stehen hinter Putins Beziehungen zur europäischen radikalen Rechten?

Kuzio: Sein wichtigster Feind ist nicht die ukrainische Regierung, sondern der Westen - die Nato, die EU und die Ordnung, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs etabliert hat. Die Allianz mit bestimmten europäischen Parteien ist eine Zweckehe, aber keiner der Partner will sie zu sehr in die Öffentlichkeit tragen. Dabei spielt natürlich auch Geld eine Rolle. Der Front National in Frankreich etwa hat ja von Russland einen Millionenkredit bekommen. Aber auch die extreme Linke in Europa ist antiamerikanisch und gegen die EU. Beides ist für Putin von Vorteil.

STANDARD: Mit der Annexion der Krim hat Putin Tatsachen geschaffen, im Fall der Ostukraine ist die Lage viel unübersichtlicher. Worin bestehen die Unterschiede?

Kuzio: 2012, am Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident, gab es in Moskau einige Proteste. Die Paranoia davor, dass in Russland eine Art Revolution entstehen könnte, ließ Putin nach Wegen suchen, um seine Beliebtheit zu steigern. Die Krim war dafür perfekt, das ist ein sehr populäres Thema. Eine Invasion in der Ostukraine hingegen wäre nicht populär. Daher muss Putin auch den Tod von Soldaten vor der eigenen Bevölkerung verschweigen und die Existenz russischer Truppen in der Region leugnen.

STANDARD: Es gibt einen neuen Vorschlag der Separatisten, den Donbass als Teil der Ukraine anzuerkennen. Ist das ein Durchbruch oder ein taktischer Zug?

Kuzio: Die meisten westlichen Regierungen gehen davon aus, dass über das Vorgehen der Separatisten in Moskau entschieden wird, nicht in Donezk oder Luhansk. Die Separatisten wollten die Region ja ursprünglich an Russland anschließen, genau wie die Krim. Putin aber wollte das nicht. Unter anderem, weil das sehr teuer wäre - wie übrigens auch die Krim für ihn sehr teuer ist. Für Putin ist es also besser, wenn der Donbass Teil der Ukraine bleibt und Kiew weiter Schwierigkeiten bereitet. Er möchte einen föderalen ukrainischen Staat, in dem eine Region ihr Veto gegen die Innen- und Außenpolitik einlegen kann. Das würde Kiew aber nie akzeptieren. Ein ukrainischer Regierungsverantwortlicher, der sich darauf einlässt, wäre politisch am Ende. Wenn es ein Referendum über die Ostukraine gäbe, würde, glaube ich, ein großer Teil der Ukrainer sagen: Fahrt zur Hölle, schließt euch Russland an. Diese Option wird nicht öffentlich diskutiert, aber sie steht dennoch quasi als Schatten im Raum. (Gerald Schubert, 12.6.2015)